Flutgrab
Schreie.
Ein weiteres Mal versuchte er, die Alte zu schnappen, ihr das brennende Surkot wegzureißen, doch die Knochenfrau schlug wild um sich. In einem abscheulichen letzten Tanz drehte sie sich kreischend und stieß gegen die Kräuterbündel und Felle, die von der Decke baumelten. Zuckend und taumelnd fiel sie nach rechts, nach links. Er sah ihre Haare brennen, sah die Haut verschmoren und wusste nicht, was tun.
Raus, dachte er. Sie muss in den Regen. Sie muss …
Die Flammen nahmen sich, was sie kriegen konnten. Die Balken fingen Feuer, einer der Äste, seit Jahren tot und gänzlich trocken, explodierte Funken spuckend.
»Hier«, schrie er hustend. Dichter Rauch breitete sich aus, sank tiefer und tiefer. Rungholt wollte die Greisin zur Tür stoßen, aber sie stürzte, krümmte sich und warf sich so heftig hin und her, dass er nicht an sie herankam.
»Feuer! Lasst das Wasser in den Hof!« Männerrufe überschlugen sich draußen. »Die Hütte der Alten! Holt Wasser.«
Hinter den Flammen sah Rungholt an der zerschlagenen Tür Schatten huschen. Immer mehr Bewohner der umliegenden Hütten liefen zusammen.
Die brennende Knochenfrau bewegte sich nicht mehr. Sie lag auf dem Bauch, die Arme verkrampft, die Beine um den Hauklotz geschlungen. Ihre Haut war verbrannt, das Fleisch warf Blasen. Der Gestank war unerträglich. Gegen den Brechreiz ankämpfend, wich Rungholt von der Toten zurück, klaubte sein Schwert auf und zog den Schädel unter schmorenden Fellresten hervor. Dann zog er sich vor den Schatten zurück, die sich vor der Hütte versammelt hatten, versuchte, hinter den Flammen und dem Qualm zu bleiben, und erreichte die Rückseite der Hütte.
Drei, vier Tritte, ein paar der Bretter gaben nach, und Rungholt spürte den Regen, den Strom aus Wasser auf seinen feuerwarmen Wangen. Das erste Mal seit Wochen, dass er die feuchte Luft begrüßte. Er füllte seine Lungen mit dieser reinen Luft und torkelte ins Freie.
Und während mehrere Männer mit Eimern und Dauben voll Wasser die Hütte stürmten und andere begonnen hatten, die Sandsäcke wegzureißen, taumelte Rungholt an ihnen vorbei. Die Nacht war angebrochen. Hinter ihm flackerte orangerot der Feuerschein, zeichnete sein Spiel in den Backsteintunnel zum Wulffsgang.
Sich nicht bewusst, den Kinderschädel noch in der Hand zu tragen, watete er auf die Stavengasse hinaus. Diesmal war ihm jede Untiefe egal.
28
Magisch glitzerte Fackelschein auf dem Wasser und warf sein tanzendes Licht auf Rungholts Haut. Die alte Verbrennung juckte, die Haut war rau, obwohl er sie gerade mit Sinjes Stutenfett eingerieben hatte.
Rungholt hielt seine Rechte, in der ein tiefer Schnitt klaffte, über die Schüssel mit Wasser. Er streckte die Finger und ließ die Hand behutsam über der Oberfläche schweben. Sie zitterte, obwohl er ganz ruhig atmete.
Er beugte sich vor, senkte den schweren Schädel bis kurz über seine Hand und starrte zwischen seinen Fingern hindurch auf das Wasser in der Daube. Bei jedem Atemzug spürte er seinen Bauch auf den Oberschenkeln.
Einatmen, ausatmen. Er versuchte, an nichts zu denken, versuchte, sich ins Lichtspiel zu versenken, in den Reigen aus Feuer und Wasser. Langsam, langsam senkte er seine Hand hinab, spürte, wie das kühle Nass seinen Handballen benetzte, erst um seine Finger floss und schließlich über seinen Handrücken. Seine Pranke nahm beinahe die ganze Holzdaube ein. Das Wasser stand bis zum Rand. Er bewegte sich nicht. Aufgeregt tanzte der Fackelschein, zerriss über seiner Hand und setzte sich zu neuen Gebilden zusammen.
Feuer und Wasser.
Du hast die Töversche umgebracht.
Rungholt schnaubte. Er sah diese Hand unter Wasser und dachte: Vielleicht sollte ich ins Wasser steigen. Einfach hineingehen. Nicht bis zum Knie, nicht bis zum Nabel. Bis zum Hals und darüber hinaus. Einfach ins Meer gehen und nicht mehr umdrehen.
»Das wäre eine Lösung. Dann könntest du niemanden mehr anknurren oder nachts deine Freunde aus dem Bett holen«, riss Sinje ihn aus den Grübeleien. Hatte er gesprochen?
»Habe ich eben geredet?«
»Du hast gesagt, du willst ins Wasser gehen«, rief Marek und schwang sich aus den Strohkissen. »Deine Klamotten stinken vielleicht.«
Splitternackt, wie er war, ging er an Rungholt vorbei, zog dessen Überkleider von der Lehne des einzigen Stuhls und legte sie in einen Wäschetrog. Der Geruch des Qualms, nein, der von verbranntem Fleisch, er war unerträglich.
»Ich werde sie dir morgen waschen, Rungholt.«
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