Flutgrab
Marek machte nicht den Eindruck, als würde er scherzen.
»Das brauchst du nicht, Marek. Dank dir, aber meine Magd wird das übernehmen.«
»Wenn Hilde mitkriegt, wie du wieder aussiehst, reißt sie dir den Kopf ab. Und Alheyd packt ihn an den Haaren und donnert ihn an deine Dornsetür, bis du lachst.«
Rungholt war nicht zum Schmunzeln zumute, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Marek hatte Recht. Das war einer der Gründe gewesen, nicht nach Hause zu eilen und sich bei einem Genever in der Scrivekamere zu verschanzen. Der andere war gewichtiger: Er brauchte Menschen um sich, mit denen er über die Tode reden konnte. Den Tod des Schattens, aber vor allem über den Tod der Alten. Über den Tod und den Fall. Und mit Alheyd konnte er dies leider nicht.
»Willst du dich umbringen, Rungholt?«, fragte Sinje.
Er blickte von der Daube auf. »Warum hat sie sich festgesetzt? Warum verblasst sie nicht wie eine alte Freundschaft, derer man überdrüssig ist? Warum löst sie sich nicht auf wie Wein, der in die Trave geschüttet wird? Warum verliere ich die Angst vor dem Wasser nicht, Sinje?« Abermals sah er dem Wasser zu.
»Das war nicht meine Frage … Willst du dir etwas antun? Es gibt solche Menschen. Sie sind vom Leben müde, Rungholt. Bist du vom Leben müde?«
Jetzt erst sah er ihr in die Augen. Er war müde, schrecklich müde … Aber vom Leben? »Mag sein«, entgegnete er ruhig. Er bekam kaum Luft. Er wollte sich bewegen, aber er konnte einfach nicht. Schon der Gedanke, seine Hand aus dem Wasser zu ziehen, war ihm schwer.
Sinje legte einen frischen Scharpieverband auf seinen Rücken und zurrte ihn um seine Brust fest. Dabei bewegte er sich nicht, verharrte, noch immer über die Daube gebeugt, die Hand mit der Schnittwunde im Wasser.
»Komm, hör auf, Rungholt. Du hast weder deinen Verfolger umgebracht, noch bist du schuld am Tod der Knochenfrau. Wer weiß schon, woher sie deinen Namen kannte. Die Töversche war verwirrt, meine ich, wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was du sagst. Und was die Leute über sie tuscheln.« Marek suchte auf einem wurmstichigen Regalbrett an der Feuerstelle nach einem Apfel. Gewöhnlich legte Sinje hier das Obst hin, um es zu trocknen. Er fand bloß ein paar Eicheln. Kauend kam er zu Sinje und Rungholt herüber. »Du bist nicht schuld, sag ich dir. Es war sicher nur zu entsetzlich anzusehen, wie sie in Flammen …«
»Halt’s Maul«, entfuhr es Rungholt schroff. »Ich habe so viele Tote gesehen, da kommt es auf die eine auch nicht an! Dieses scheißgreise Weib.« Sinje und Marek warfen sich alarmierte Blicke zu.
»Vielleicht solltest du dich erst einmal ausruhen«, warf Sinje ein.
»Ich will kein Mitleid.«
»Was dann?«
»Wenn ich das wüsste!« Rungholt stand ruppig auf, stieß aus Versehen gegen den Tisch, Wasser schwappte aus der Daube. »Tut mir leid … Ich – ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß nicht, was ich will.« Seine feuchte Hand zitterte stark, als er sich die Augen rieb. »Ich weiß es einfach nicht.« Das Wasser verteilte sich über sein Gesicht.
Sinje seufzte schmunzelnd. »Das ist das Problem mit euch Männern: Ihr wisst einfach nicht, was ihr wollt.«
»Wir sind eben nicht aus einem einzigen Stück Rippe geschnitzt wie ihr«, fuhr er sie unvermittelt an. »Ihr redet uns doch ständig ein, dass wir nicht wissen, was wir wollen. Ihr redet es uns ein. Und wir glauben es! Ich weiß genau, was ich will! Ich – ich will … Es soll aufhören! Ich will einfach, dass … ES AUFHÖRT !« Rungholt fegte die Daube vom Tisch, dass es nur so spritzte, trat sie durch die Hütte und begann, in der Pfütze herumzustampfen. Seine Stimme bebte, begleitet von dem immer wilder werdenden Aufstampfen. »Ich will keine Angst mehr vor dem Wasser haben! Ich will, dass die Toten nicht mehr glotzen. Sie sollen weg. Ich will … Sie sollen raus. Sie sollen endlich raus aus meinem Haus, da oben. Und ich will den Schnee nicht Der Schnee soll weg Schmilz du beschissener schnee schmilz endlich und scheiß auf den bluthund ligawyi ligawyi ich kann keine spuren mehr sehen im schnee ich will das nicht mehr ich will – ihr alle und lübeck sollt ersaufen und ich gleich mit … ich …«
Erschöpft brach Rungholt seinen wahnsinnigen Tanz ab, stand bewegungslos da. Sein massiger Körper bebte. Keuchend rang er nach Luft. Marek fasste ihn bei der Schulter und drehte ihn zu sich.
»Ich will … Ich … will das alles nicht mehr, Marek«, schluchzte er und konnte vor Weinen kaum
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