Flutgrab
Kinder, nach denen du suchst.«
Sie ließ ihre Fingerkuppen über die Runen gleiten, drehte den Schädel und folgte den beiden Spiralen. »Der Hort des Roten gut versteckt und unerreichbar … Aus Blut geboren, mit Blut bezahlt«, las sie stockend vor.
»Was soll das bedeuten? Blut bezahlt? Was für ein Hort?«
»Der Rote ist der Teufel, Rungholt. Dieser Kopf ist eine Karte. Er führt dich zum Schatz des Teufels.«
»Schatz des Teufels?«
»Zu einem Berg aus erschlagenen und geköpften Christen.«
»Unsinn.«
»Es wird auch dein Grab sein, Rungholt. Des Teufels Lakai bist du. Leckst ihm den Dreck vom Stiefel.«
Unsicher blickte er auf sie hinab. Wovon redete sie? Etwa von d’ Alighieri? Etwa vom Florenzer, diesem Wittenfresser? Sie versucht, dich einzulullen. Sie versucht, dir eine Mär aufzutischen. Was soll ein Schmied mit einem Schädel, der zu einem Leichenberg führt? »Halt dein schändliches Maul, Hexenweib. Was sagen die Runen wirklich? Sag es, oder soll ich …« Er deutete an, ihr die Klinge vollends durch den Hals zu rammen. Und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Verdammte Augen.
»Tu’s, Rungholt. Tu’s nur. Aber es bleibt, wie es bleibt. Ich spreche die …«
»Was für ein Hort? Wer ist der Rote? Wo ist dieser Hort?«
»Wenn du ihm richtig in die Augen siehst, Rungholt, wird er mit dir sprechen.«
»Der Schädel?«
»Der letzte Platz des Nordmanns wird dein Grab. Der Rote hält seine Streitaxt bereit. Schau dem Schädel in die Augen und sieh deinen Tod!« Die Greisin lachte meckernd. »Schau es an. Dies Kind. Es wird dich anspucken und dich auslachen und dir sagen: Stirb! Stirb! Stirb! Stiiiiirb! Rungholt, Teufel!« Jäh verfiel sie ins Schreien, Kreischen, Toben. Sie schleuderte den Schädel von sich, packte das Schwert mit beiden Händen und …
»Nein!« Aus Angst, sie steche sich selbst, zog Rungholt das Schwert fort. Er riss es mit einem Ruck von ihr. Doch sie ließ nicht los. Sie löste einfach den Griff ihrer dünnen Spinnenfinger nicht von der Klinge. Der Ruck, als Rungholt schließlich das Schwert freibekam, trennte ihr zwei ab. Anstatt aufzuschreien, lachte sie noch lauter.
»Der Hort der Víkingr wird dein letztes Plätzchen. Letztes Plätzchen. Letztes Plätzchen. Setz dich, setz dich.«
»Still!« Er schlug ihr ins Gesicht, hörte, wie ihre Nase brach. Lachen, bloß Lachen. Außer sich, griff er das Schwert fester, hielt ihr die Parierstange unter die Nase, drohte ihr zuzuschlagen.
Doch die Knochenfrau tänzelte vor ihm herum, viel zu dicht, viel zu wild, und besudelte sie beide mit ihrem Blut. »Du bist im Schnee gestorben, Rungholt. Im Schnee. Du bist seit dreißig Jahren tot.«
»Hör auf!«
»Weißt es nicht. Weißt es nicht. Du bist der Teufel. Du schleichst durch Lübeck und gräbst Leichen aus. Du liebst die Leichen, Rungholt.« Sie wollte ihn mit ihren Stummeln berühren, aus denen das Blut schoss. »Weil du selbst schon tot bist.«
Rungholt wurde schlecht.
»Du bist der Teufel. Du musst sterben.«
Hör auf!
»Dein Herz liegt in der Nordsee, deine Seele im Eis bei der Daugava. Du bist längst im Fegefeuer.«
Hatte sie das wirklich gesagt? Oder gaukelte der giftige Hexenqualm ihm das alles nur vor?
»Nur deswegen ist dir nicht totenkalt, Rungholt. Nur deswegen. Weil du im Fegefeuer stehst.«
Ich schlag dir dein Maul ein. Töversche.
»Du bist tot. Und der Hort ist dein drittes Grab.« Noch immer wollte sie seine Wange streicheln, ihn berühren. Er konnte ihr Blut riechen, ihren Schweiß und ihr aufgerissenes, dreckiges Surkot, das sich mit Kot und Urin vollgesogen hatte.
Angewidert stieß er sie von sich. Lachend taumelte sie zurück, trat auf ihre Knochenschalen. Zu spät erkannte er, dass sie strauchelte, das Gleichgewicht verlor. Rungholt stürzte vor, aber zu spät. Die Knochenfrau schlug mit dem Rücken an den Kessel mit dem Giftöl, riss ihn um. Das Öl schwappte heraus, ergoss sich über sie, und ihr Lachen wurde zu einem Schrei.
Sofort warf Rungholt das Schwert beiseite, eilte zu ihr und packte ihre Hand. In diesem Moment flammte die Glut auf. Das mit Öl vollgesogene Surkot stand binnen eines Wimpernschlags in Flammen.
Eine Feuerwand schlug hoch. Mit einem Aufschrei ließ Rungholt los und taumelte zurück, die Hände vors Gesicht gerissen. Seine Wimpern waren im Nu versengt, er meinte, seine linke Hand mit der alten Brandverletzung stünde wieder in Flammen. Die Hitzewelle verpuffte, doch das Feuer blieb. Und die Schreie blieben. Die
Weitere Kostenlose Bücher