Föhn mich nicht zu
Deutschland passiert ist.»
Der Vorschlag von Lena war ein bisschen sehr vage, aber vielleicht sollte ich ihn dennoch an der Tafel festhalten, um wenigstens
irgendeinen Schülerbeitrag gesichert zu haben. Frau Stahl rollte mit den Augen und rümpfte die Nase. Störte sie sich an Lenas
Ausdrucksweise? Ich korrigierte vorsichtshalber:
« Passieren
sagt man nicht, Lena! Das ist Straßenjargon. Wir sind hier im Unterricht und verwenden das Wort
geschehen
. Also, ich notiere das mal.»
Aber wahrscheinlich war ohnehin meine Adaption des Freytag-Zitats für meine Seminarleiterin bereits die reinste Blasphemie.
Ich würde nachher im Auswertungsgespräch sehr viel Kraft darauf verwenden müssen, diese sprachliche Vereinfachung zu begründen.
Ich fuhr mit dem Unterricht fort: «Lena hat angedeutet, wohin eure Überlegungen gehen sollen. Aber richtet euren Blick noch
einmal auf das Zitat! Hier wird nicht allgemein von Deutschland gesprochen, sondern von einer neuen Größe. Denkt bitte an
die letzte Stunde zurück und überlegt, was der Autor im Zusammenhang mit einer neuen Größe im Sinn haben könnte.»
|123| Wieder Stille. Ratlose Schüler. Und ich hatte erneut nur Augen für Frau Stahl. Diese kleine, spirrelige, freudlose Person
mit Igelschnitt absorbierte mehr von meiner Aufmerksamkeit als die ganze Klasse zusammen. Ich hatte Mühe, mich überhaupt auf
die Jugendlichen zu konzentrieren. Weil ich unentwegt im Gesicht meiner Ausbilderin zu lesen versuchte, ob auf diesem nicht
wenigstens ein Hauch von Wohlwollen lag. Ein Hauch von Verständnis, weil sie trotz Zehlendorf sicherlich irgendwann die Erfahrung
gemacht haben musste, dass die Schüler nicht die Antworten erbrachten, die sie in ihren Planungen einkalkuliert hatte. Wenigstens
eine Spur von Aufmunterung. Doch ihr Mienenspiel versagte mir jeglichen Trost.
Ich beschloss, in die Offensive zu gehen und sie einfach anzulächeln. Damit war ich vermutlich der Erste aus unserer Seminargruppe.
Aber vielleicht könnte ich sie so dazu zwingen, zurückzulächeln und mich etwas milder, etwas fairer zu beurteilen. Also lächelte
ich, was das Zeug hielt, bestimmt fünf Sekunden lang. Dann gab ich auf. Ihr kühl-ernster Blick war wie in Stein gemeißelt.
Fast hätte ich bei meinem Werben um Frau Stahls Gunst Fatima übersehen, die ein Handzeichen machte.
«Ja?»
«Letzte Stunde, mein Sie? Österreich, oda?»
Frau Stahl legte entgeistert ihr anämisches, schmales Gesicht in ihre langen, knochigen und fleckigen Hände. Ich hätte wohl
besser die Schüler fünfundvierzig Minuten Stillarbeit machen lassen und ihnen jegliche mündliche Äußerung versagen sollen.
Was würde meine Seminarleiterin bei der nächsten Schüleräußerung tun? Die Arme zum Himmel werfen und laut Gottes Hilfe erflehen?
Aus dem Raum rennen? Warum konnte sie nicht einfach einschlafen? Dann könnte ich den Schülern die Antwort auf meinen Impuls
verraten und endlich zur nächsten Phase übergehen. Und warum hatte ich am Ende des ersten Semesters nicht einfach |124| in ein anderes Geschichtsseminar gewechselt? Als es noch ging. Dann würde ich jetzt nicht bis zum Pausenklingeln vierzig weitere
Minuten ihre Visage vor mir haben. Dann wäre ich ihr nicht bis zur Prüfung ausgeliefert.
Lehrerzimmer, Mittwoch, zweite Hofpause
Ich: Die is so was von streng. Nur schlechte Noten gibt’s bei der blöden Kuh. Dabei macht die selber so einen Schrottunterricht.
Die hat nur Glück, dass se in Zehlendorf anna Schule ist. Da kannste ja vor die Klasse einen Besen stellen und die Schüler
würden ihre Aufgaben trotzdem machen.
Herr Rauter: Die war mir gleich unsympathisch, als ick se jesehen hab mit Ihnen. Die ist wahrscheinlich total frustriert, weil se keenen
Sex hat.
Ich: Mir wäre lieber, sie hätte welchen und würde bessere Noten geben. Jedenfalls …
Frau Baum: Herr Serin! Sie haben den Raum heute wieder als Saustall hinterlassen.
Ich: Wieso? Meine Schüler haben extra aufgeräumt.
Frau Baum: Der ganze Lehrertisch war voller Kreide. Hier, schauen Sie! Meine Ärmel! Total eingesaut! Schauen Sie sich die an!
Herr Rauter: Dann darfste halt nicht die ganze Stunde sitzen. Dann bleiben die Ärmel sauber. Ich hab ja immer jesagt, unterrichte doch
mal zur Abwechslung im Stehen.
Frau Baum: Also, das ist doch eine Frechheit! (Zieht sich beleidigt und schimpfend zurück.)
Herr Rauter: Die nervt! Dit ham Se sicherlich auch schon jemerkt. Nicht ernst nehmen!
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Der
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