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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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darüber halten, wie schlampig meine Entwürfe geschrieben seien. Nachdem sie meinen Einstieg
     zerpflückt hätte. Ich hielt das Schweigen meiner Klasse nicht länger aus: «Sagt mir bitte, was euch einfällt, wenn ihr dieses
     Zitat lest!»
    An die Wand war eine Äußerung des Schriftstellers Gustav Freytag aus dem Jahr 1871 projiziert, mit der dieser die deutsche
     Reichsgründung im selben Jahr kritisierte. Mit seiner Stellungnahme hatte ich eine Unterrichtseinheit einleiten wollen, in
     der die Schüler erkennen sollten, dass die Merkmale dieser Reichsgründung   – Vorherrschaft Preußens, Konstituierung des Reiches infolge von Kriegen, Reichsgründung von oben, ohne das Volk sowie die
     Dominanz Bismarcks – problematische Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Staates im Inneren und auf die Beziehungen
     zu den Nachbarländern hatten. Das Zitat lautete: «Die Größe haben wir erreicht, jetzt werfen die Mittel, wodurch sie uns geworden,
     ihre Schatten über unsere Zukunft. Wir werden’s alle noch bezahlen   …»
    Natürlich überforderte dieser Satzbau meine 9b deutlich. Nicht nur, dass etwa 80   Prozent meiner Schüler einen Migrationshintergrund hatten, sie stammten oft auch aus Elternhäusern, die ihnen ein lernförderliches
     Umfeld nicht ermöglichten. Ich hatte den Text darum syntaktisch vereinfacht. Das Zitat in der neuen Version: «Unser Land ist
     nun sehr groß. Doch die Art und Weise, wie wir so groß geworden sind, verdunkelt unsere Zukunft. Wir werden dafür noch bezahlen.»
     Die Schüler wussten, dass es um die Gründung des Deutschen Reichs ging. Sie sollten anhand des Zitats erkennen, dass diese
     in ihrer Form von manchen Zeitgenossen als Belastung für die zukünftige Entwicklung Deutschlands gesehen wurde. Dimitri meldete
     sich. Endlich! «Welches Land meint der?»
    Dimitri hatte die letzten Stunden eigentlich nicht gefehlt. Frau |121| Stahls Blick schien mir noch strenger. Ich spürte, wie mir kalter Schweiß den Rücken herunterlief. «Überlegt bitte, von welchem
     Land Gustav Freytag spricht!   … Mohammed!»
    «Deutschland.»
    «Bitte genauer angeben, von welchem Deutschland hier die Rede ist!»
    «Deutschland 1871.»
    «Gut, also das Deutsche Reich 1871.»
    Verdammt! Ich hatte zwei Fehler begangen: Erstens hatte ich Mohammed nicht gezwungen, im ganzen Satz zu sprechen, und zweitens
     hatte ich die genaue Bezeichnung für Deutschland selbst vorgenommen, statt sie einen Schüler sagen zu lassen. In den Augen
     meiner Seminarleiterin waren das praktisch Todsünden.
    Der Elan meiner Klasse war längst wieder verebbt. Mein verbaler Impuls hatte nicht weit getragen. Ich musste neu ansetzen:
     «Was müssen wir denn wissen, um zur Aussage von Gustav Freytag Stellung beziehen zu können?» Schon wieder ein Fauxpas. Wir
     durften bei Frau Stahl keine Fragen stellen, sondern nur Aufforderungen formulieren. Ich korrigierte mich: «Überlegt bitte,
     was wir wissen müssen, um zur Aussage von Gustav Freytag Stellung beziehen zu können!» Frau Stahl schüttelte leicht den Kopf
     und biss auf ihren Pfefferminzbonbon, auf dem sie aus welchen Gründen auch immer permanent lutschte – wobei sie beim Lutschen
     immer ihre Wangen nach innen zog, so, als herrsche zwischen Lippen und Rachen großer Unterdruck.
    Nie hätte ich es früher für möglich gehalten, dass mir die Gegenwart einer Frau, die sowohl dünner als auch kleiner als ich
     war, Unbehagen bereiten konnte. Aber Frau Stahl vermochte es durch ihre maßlose Strenge. Fünfzig Prozent aller Referendare
     schlossen bei ihr mit einer Fünf oder sogar noch schlechter ab. Seitdem sie einmal wegen einer zu guten Note in einer Prüfung
     von einem Hauptseminarleiter zurechtgewiesen worden war, kämpfte sie |122| verbissen und erfolgreich um den Titel als Seminarleiterin mit den meisten Durchfallern Berlins. Ihr Anspruch an uns stand
     in einem frappierenden Missverhältnis dazu, dass wir Referendare in ihrem Seminar nichts lernten. Noch größer war die Diskrepanz
     zu ihrem eigenen Nullachtfünfzehn-Unterricht, den wir bei Besuchen in ihren Klassen zu sehen bekamen. Es war immer der gleiche
     leidenschaftslose Stundenverlauf, der überall außerhalb ihres Zehlendorfer Soziotops auf Dauer die gelangweilten Schüler zum
     Verlassen des Klassenraums oder zur Sabotage jeglicher Lehreraktion bewogen hätte.
    Lena meldete sich: «Was mit Deutschland passiert ist.»
    «Bitte antworte im ganzen Satz!»
    «Wir müssen wissen, was mit

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