Föhn mich nicht zu
folgendermaßen von mir schwärmten: «Oh,
der Herr Serin! Der ist so geradlinig und hilfsbereit. Ich träume jede Nacht von ihm. Leider hat er eine Freundin. Diese Schlampe.»
Mit Flottsein, Nettsein und Spickenlassen kam man ohne Zweifel nicht weiter. Um als Mann interessant zu sein, musste man mittlerweile
mindestens attraktiv aussehen, wobei die Deutungshoheit |196| diesbezüglich zu allem Übel bei den Schülerinnen lag. Darüber setzte ich Frau Traut aber nicht in Kenntnis. Ich erkundigte
mich stattdessen, wie ich mich in den zitierten Situationen zukünftig verhalten sollte.
«Seien Sie transparent! Machen Sie deutlich, dass Sie nicht an der Schülerin interessiert sind, dass Sie nichts von ihr wollen!
Vermeiden Sie unnötige Nähe! Natürlich dürfen Sie sich freuen, wenn Sie merken, dass Schülerinnen Sie mögen. Aber lassen Sie
denen gegenüber nicht den Eindruck entstehen, Ihnen bedeute dies etwas.»
In der Praxis zeigten sich alsbald die Grenzen der Ratschläge von Frau Traut. Nicht nur, dass ich nun um die Gefahr wusste,
zu Unrecht sexueller Übergriffe bezichtigt zu werden. Die Handlungsempfehlungen der Referentin erwiesen sich bei näherem Nachdenken
obendrein als viel zu schwammig, um in der Realität tatsächlich praktikabel zu sein. Ich hatte mir zwar die Maximen Transparenz,
Desinteresse und Distanziertheit gemerkt. Wie man sie gegenüber Schülerinnen aber mit Inhalt füllte, blieb mir überlassen.
Meine daraus resultierende Unsicherheit hatte zur Folge, dass ich den Mädchen in meinen Kursen im Unterricht nie mehr das
Wort erteilte, damit sie nicht annahmen, ich hege irgendwelche Sympathien für sie. Kam eine zu mir an den Lehrertisch, so
wich ich verschreckt zurück: «Bitte setz dich wieder! Du kannst mir die Frage auch vom Platz aus stellen.»
Serpil erwischte mich mit ihrem Wunsch, über ihre Note zu sprechen, völlig auf dem falschen Fuß. Und was die Sache noch heikler
machte: Alle ihre Mitschüler hatten die Klasse bereits verlassen. Ich war allein mit ihr, hatte also auch keine Zeugen, die
mich entlasten konnten, sollte der – falsche – Verdacht aufkommen, ich würde mich an Mädchen vergreifen. Unter dem Druck,
nur keinen Fehler zu begehen, reagierte ich wohl etwas über. Zunächst stürmte ich auf die andere Seite des Raumes. Danach |197| hielt ich eine kurze Ansprache, in der ich mich bemühte, transparent, distanziert und desinteressiert zugleich zu sein: «Serpil!
Du kriegst eine Fünf. Du bist mir nämlich total egal. Ob du sitzen bleibst und früh verheiratest wirst, ist mir schnuppe!
Und übrigens, du bist auch überhaupt nicht mein Typ. Du bist echt unattraktiv. Du darfst natürlich trotzdem was von mir wollen.
Nur werde ich das nicht erwidern.»
Ihre Lippen zitterten, und mit Tränen in den Augen verließ sie wortlos den Raum.
Obwohl ich versucht hatte, mich an Frau Trauts Leitlinien zu orientieren, fühlte ich mich schlecht. Vielleicht, weil ich gelogen
hatte. Denn eigentlich fand ich Serpil ausgesprochen anziehend. Neben Nedime und Essraa war sie eindeutig die attraktivste
Schülerin der 11a. Und außerdem fürchtete ich mich nun vor Serpils Reaktion. Was, wenn sie mich nun erst recht beschuldigte,
sie sexuell belästigt zu haben, aus Rache dafür, sie so gedemütigt und verletzt zu haben? War das auszuschließen? Sollte ich
ihr doch besser noch eine Vier geben? Oder eine Zwei, um ganz sicherzugehen?
Raum 103, Dienstag, 10.59 Uhr, 4. Stunde, Französisch 11a
Ahmet: Herr Serin, Sie ham gesagt, wenn ich gut mitarbeite, dann machen Sie mit mir Armdrücken.
Ich: Ich habe gesagt, wenn du bis zum Ende gut mitarbeitest, dann machen wir nach meiner Prüfung Armdrücken. An deiner Stelle würde
ich schon mal zu trainieren anfangen.
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Kreide auf dem Oberschenkel
Warum musste immer mir so etwas passieren? Es war die letzte Seminarstunde vor den Ferien, und Herr Schubert hatte die verrückte
Idee, einmal etwas anderes auszuprobieren, um das Halbjahr locker ausklingen zu lassen. Jeder sollte auf ein Blatt zwei Merkmale
notieren, die er an seinem Sitznachbarn schätzte. Im ganzen Hauptseminar gab es vielleicht drei Referendare, zu denen mir
überhaupt mehr als eine positive Eigenschaft in den Sinn gekommen wäre: André, Christina und Lutz. Bei den anderen fiel mir
nicht ein einziger positiver Wesenszug ein, und ich hätte mir mit Scheinkomplimenten wie
nett
und
sympathisch
behelfen müssen, um mich irgendwie aus
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