Föhn mich nicht zu
Missbrauch an Mädchen» teilgenommen. Seitdem war ich nicht
mehr ungezwungen und sorglos im Umgang mit meinen Schülerinnen, sondern geradezu gehemmt und verunsichert.
Die Fortbildung hatte uns einerseits helfen sollen, sexuelle Gewalt definieren zu können. Andererseits hatte sie uns adäquate
Handlungsstrategien an die Hand geben wollen für den Fall, dass wir von sexueller Gewalt an einer Schülerin erfuhren. Von
Letzterem war jedoch eher nicht auszugehen, da es eher unwahrscheinlich war, von den betroffenen Schülerinnen eingeweiht zu
werden. Diese Erkenntnis war für uns ziemlich ernüchternd, weshalb das Interesse der Referendarsgruppe während der Veranstaltung
bald in eine andere Richtung ging. Verschiedene meiner Kollegen hatten davon gehört, dass Lehrer von Schülern fälschlicherweise
sexueller Belästigung beschuldigt worden waren – zum Beispiel |194| aus Rache für schlechte Noten. Sie wollten nun von Frau Traut, der Referentin, wissen, wie man auf einen solchen Vorwurf reagieren
könne.
Frau Traut, eine knapp sechzigjährige bekennende Feministin mit Alice-Schwarzer-Brille, riesigen, silbernen Kreolenohrringen
und einem grellgelben Strickpulli, glaubte nicht an die Möglichkeit einer unverschuldeten Anschuldigung. Sie selbst habe in
dreißig Jahren Berufserfahrung noch kein Mädchen betreut, bei dem ihr Zweifel gekommen seien. Wenngleich wir ihre Erfahrung
und Menschenkenntnis nicht infrage stellten, so konnten uns ihre Ausführungen auch bei dieser Problematik nicht wirklich befriedigen.
Sie musste diese Unzufriedenheit gespürt haben, denn sie fügte ungefragt hinzu, dass man, wenn man sich als Lehrer transparent
und unzweideutig verhalte, nichts zu befürchten habe. Nur: Was bedeutete das? Frau Traut fuhr sich mit ihren Fingern durchs
wuschelige Haar, danach ließ sie eine Erklärung folgen: «Ich will Ihnen Beispiele geben. Als nicht transparent und nicht eindeutig
kann ein Verhalten bezeichnet werden, wenn man den Arm um eine Schülerin legt, wenn man ihr Parfum, ihre Figur lobt oder sie
fragt, ob sie bereits einen Freund hat.»
Mir stockte der Atem. Das hatte ich alles bereits getan. Ich hatte sogar, als Nedime meine Frage nach einem Freund mit einem
Ja beantwortete, enttäuscht ausgerufen: «Oh, Scheiße! Dann bist du schon vergeben.» Natürlich war diese Bemerkung nur Spaß
gewesen. Und auch bei den anderen Aktionen hatte ich mir nichts weiter gedacht. Ich beugte mich zu Christina, die neben mir
saß, um mich bei ihr zu vergewissern, dass ich mich bisher im legalen Bereich bewegt hatte:
«Ich habe Schülerinnen den Arm um die Schulter gelegt, ihre Figur gelobt und nach einem eventuellen Freund gefragt. Allerdings
diente das nicht der Befriedigung meiner sexuellen Bedürfnisse. Würdest du sagen, dass so was noch in Ordnung ist?»
|195| Christina kam nicht dazu, mir zu antworten. Denn obwohl ich leise gesprochen hatte, unterbrach Frau Traut ihren Vortrag: «Sagen
Sie es ruhig laut! Vielleicht können wir gemeinsam im Plenum darüber diskutieren.»
Gerade das hatte ich vermeiden wollen. Ich wollte nicht vor allen als Sexualstraftäter dastehen. Aber irgendetwas musste ich
von mir geben: «Äh, bei mir ist es eher umgekehrt.
Ich
wurde schon mal von Schülerinnen gefragt, ob ich eine Freundin habe. Und letztens hat mich eine Schülerin sogar am Arm gestreichelt.
Da habe ich mich ein bisschen gefreut, ohne aber sexuell erregt zu sein. Jetzt wollte ich wissen, ob das bereits verboten
ist.»
Ihre Reaktion überraschte mich. «Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Schülerinnen in Sie verlieben. Sie sehen flott aus
und sind gewiss ein netter Lehrer, der auch mal ein Auge zudrückt, wenn er seine Schüler beim Spicken erwischt.»
Sollte ich mich über Frau Trauts Kompliment freuen? Es war sehr unwahrscheinlich, dass sich ihr Geschmack mit dem meiner Schülerinnen
deckte. Zumindest wusste ich nun, dass man zu ihrer Schulzeit, also in den Fünfzigern, als Lehrer nur nett zu sein hatte und
seine Schülerinnen abschreiben lassen musste, damit sie sich in einen verliebten. Das Attribut
flott
blieb mir allerdings ein Rätsel. Vermutlich hätte ich zu Frau Trauts Schulzeit auch mit einigen anderen Eigenschaften als
männlicher Lehrer bei den Mädchen gepunktet: Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft. Leider genügte das heutigen Teenagerinnen
nicht mehr. Unvorstellbar, dass Seda, Nedime, Serpil oder Ailyn vor ihren Freundinnen
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