Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)
alt, senil, vielleicht auch fortgeschrittener Verfolgungswahn.
Da saß er, klapprig, übermüdet, eifrig, ein alt gewordener 68er.
Pamela ging
und streichelte seine Wange: »Dad, du gehörst ins Bett, ich wärme dir noch rasch
eine Suppe auf, dann schläfst du bis morgen, und dann wollen wir schauen, wie wir
die Welt retten. Lieb, dass du mein Wächter sein willst.«
*
Es tat gut, mit Lucius auf der Münsterplattform
zu sitzen, in die im Föhnlicht greifbar nahen Berge zu schauen. Nie hätte sie gedacht,
dass sie sich hier in Bern verunsichert fühlen könnte.
Lucius lachte
nicht über ihr dumpfes Gefühl, verfolgt zu werden. Er spielte es nicht weg, war
aufmerksam. Die Indianer unterschieden nicht zwischen Wahn und Fakten, da jeder
Wahn das Wehen von Geistern war. Verfolgungswahn bedeutete auf jeden Fall Bedrohung.
Sie mochte mental nicht fit sein, man wusste, das hing auch mit dem dauernden Föhn
hier in Bern zusammen. Es mochte eine Belastung durch Elektrosmog sein. Es konnte
aber auch ein realer Mensch hinter ihr her sein. Möglicherweise hing alles zusammen.
Sie war
doch mutig geworden, stark, ihrem jugendlichen Alter von 34 Jahren entsprechend.
Endlich erwachsen, hatte sie gedacht, endlich die innere Freiheit, im Anblick der
Berge die Koordinaten gefunden zu haben. Sie zog Lucius in ihre Begeisterung: Die
Ideen zu Gartenbüchern purzelten ihr nur so zu. Zunächst schriebe sie jetzt das
mit den Gartenparterres und Labyrinthen, die Natur in Koordinaten gebracht, gezähmt.
Menschen vor ihr hatten dies gewünscht und realisiert, man erkannte es noch gut,
einige der Terrassengärten am Hang zeigten die vorrevolutionäre Gartenkultur, die
praktischen Berner hatten hier auf engstem Raum reizende winzige Nutzgärten geschaffen.
In einer versunkenen Zeit.
Das war
auch Lucius’ Welt. Lag Bern nicht auf einem alten Kraft-Ort? Er interessierte sich
für geomantische Schwingungen. Nein, es überraschte Pamela nicht, dass er sich auch
ein richtiges Pendel gekauft hatte. Harmonien und Disharmonien waren nicht nur zu
spüren, sie waren messbar. Der Blick in die Berge tat gut, doch auch ohne Pendel
war klar, das Münster strahlte zwar noch leicht positiv, doch da waren dissonante
Schwingungen, in denen sträubten sich die Haare. Das war ja kein Wunder, wenn er
an alle die Sender dachte, die allein schon das Bundeshaus, der militärische Komplex
und die ausländischen Botschaften betrieben.
Sie redeten
über Schönheit, über Schillers Glauben, dass die Menschheit durch Schönheit zu erziehen
sei. Alice war ja eine Anhängerin der Waldorfschule, dort wurde noch heute in diesem
Sinn gearbeitet. Dem widersprach Pamela. Ihr Buch sollte die Schönheit aus dem Nützlichen
herauslösen. Gerade in schwierigen Zeiten wäre Schönheit wichtiger als Essen. Sie
wollte sich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig war. Sie würde sich auf
das Schönheitsempfinden einer vergangenen Epoche einlassen, es über die Zeiten holen.
Es trieb sie, an etwas fast Vergessenes wieder zu denken. Sie redete zu Lucius über
die Angst, die in der Luft lag, die nicht ihre eigene war, die sie bloß als Instrument
erklingen ließ. Ihre eigene Angst lag anders: Die kollektiven Koordinaten lösten
sich mit den kulturellen Werten, die das kollektive Gedächtnis bisher gehalten hatten,
in Rauch auf. Was bliebe, wäre der Absturz in Barbarei. Konnte es nicht sein, dass
alle Schönheit, dass alle Liebe zur Natur und ihre Pflege umsonst gewesen wären?
Dass alle Freude am Wachsen von Pflanzen verpufft wäre, jede Beziehung, die Menschen
je zu Lebendigem gepflegt hätten, sich einfach in Nichts verloren hätte?
Nach Lucius’
Meinung bestätigten die vielen Bücher auf den Ladentischen Pamelas Kulturpessimismus.
Sie glichen den Angsttrieben von Pflanzen, dieses Hervorbringen von nicht lebensfähigen
Trieben. Dieses völlig unsinnige, verzweifelte Wachstum könnte anzeigen, wie nah
die Zerstörung war. Alice und er lebten in Alaska in einer Restwelt, die noch sehr
nah mit der indianischen Kultur und jener der Eskimos verbunden sei, die von der
niederwalzenden Erdölindustrie und dem riesigen militärischem Komplex aus mehreren
Gründen nicht zerstört werden könne. Die Natur sei dort zu mächtig. Pflanzen boten
den Drehpunkt. Lucius schwärmte: Sie gaben dem Menschen das Gefühl der Vertikalen,
was unten sei bei den Wurzeln, und was nach oben zum Licht strebe. Wer sich auf
eine Pflanze einlasse, brauche keine weiteren Orientierungshilfen, denn in
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