Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)
linken Schlüsselbeins.
*
Ich hatte mein Rad oben bei der
Uni abgestellt und angekettet, war unterwegs zur Bahnhofstoilette, um mich umzuziehen.
Ich wollte nicht den Lift nehmen und ging die Treppen hinunter, außen ums Parkhaus
herum. Bei einem der Eingänge stand ein Mann und drückte sich auf eine Art in die
Ecke, als wollte er nicht gesehen werden. Ich war schon an ihm vorbei, doch aus
den Augenwinkeln hatte ich einen von denen erspäht, die nicht in die Junkerngasse
gehörten und doch dort waren. Ich zögerte einen ganzen Treppenabsatz lang, bis ich
umkehrte. Was tat er dort? Ich ging die Treppen wieder hoch, er konnte mich noch
nicht sehen, auch die Glasfläche war noch nicht in meiner Sicht, durch die ich gespiegelt
würde, doch jetzt zögerte ich, blieb stocksteif stehen. Ich hatte ein riesig schlechtes
Gefühl, keinen einzigen Schritt sollte ich weitergehen. Gleich dort war etwas Dunkles,
Gefährliches, es wartete, würde sich ducken, mich anspringen. Es war ein Gefühl,
sonst nichts. Zum Verständnis nachgeschoben: Ich trug noch meine Schulkleider, war
zu erkennen, zu identifizieren, also war es überhaupt nicht ratsam aufzufallen.
Ich drehte mich um, jetzt rannte ich die weiteren Treppen hinunter.
*
Lucius ist lieb. Er redet mit mir
über das, was er denkt und fühlt, nicht so oberflächlich. Er versteht, was ich sage,
doch er erwartet nicht, dass ich rede. Er könnte meine Familie sein. Doch darauf
darf ich mich gar nicht einlassen, er geht sehr bald wieder zurück. Alaska ist zu
weit weg, und ich komme ins Internat. Lucius meint, was ich mir über die Liebe gedacht
habe, gelte auch für Freundschaft. Die Dauer, ob ein Monat, drei Jahre, ein paar
Jahrzehnte, das ist nicht das, was zählt. Es liegt auf einer anderen Ebene, früher
sagte man Wahlverwandtschaft. Ihm gefällt der Ausdruck noch heute, auch wenn Verwandtschaft
heute abgewirtschaftet ist. Wahlverwandtschaft mit dem ursprünglichen fürsorglichen
Treuebegriff der Verwandtschaft und dem hingezogen Sein, der persönlichen Wahl,
das ist Beziehung. Und Toleranz und Verzeihen gehören dazu. Wahlverwandtschaft ist
Freundschaft. Ich solle das in mein Buch schreiben, so könne ich es wieder lesen,
wenn er weg sei. Er ist mein Freund. Heute ist man vielleicht anspruchsvoller, auch
empfindlicher, darum flüchtet man in virtuelle Freundschaften. Die können nicht
wehtun. Wird es dir zu blöd, schaffst du eine neue Figur. Freundschaften heute gehen
nicht einmal mehr so weit, dass man sich für den Namen des Hundes interessierte.
Lucius ist sich sicher, das Internat werde meine neue Familie werden. Es sei höchste
Zeit, dass ich sorglos unter Gleichaltrigen leben lerne. Ich werde eine oder zwei
Freundinnen finden, wie Pamela Emily gefunden habe, die mehr sei als bloß eine Schwester.
In teuren Internaten seien auch extrem gute Lehrer angestellt. Der eine oder andere
werde sich für mich interessieren, weil er sehe, wie begabt und besonders ich sei.
Er werde es als seine Aufgabe ansehen, mich für sein Fach zu begeistern, doch das
Wichtigste werde sein, dass ich lerne, mit Gleichaltrigen zu lachen. Ich solle auch
das aufschreiben.
Ich habe Lucius erzählt, dass ich
den Computer der Clinique Botanique gehackt habe, weil mein Vater gesagt hatte,
Iris würde die Krankenakte von Francis Mutter bald schließen; Iris war wirklich
die Leiterin der Klinik, in der Francis Mutter lag und diese Iris und mein Vater
gehörten zu einer Skatrunde. Lucius war davon beeindruckt, dass ich eine zusätzlich
gesicherte Krankenakte einfach so knacken konnte. Doch das war für mich eher eine
sportliche Aufgabe gewesen. Ganz ärgerlicherweise konnte ich die medizinischen Fachausdrücke
und Angaben in dieser Akte nicht verstehen.
*
Ich könnte weinen, vor Glück, weil
ich Francis so sehr liebe, weil das die Liebe ist, die erste große Liebe, die mein
ganzes Leben überstrahlen wird, ich weine vor Trauer, weil er nichts von mir wissen
will. Doch ich hoffe, ich weiß es einfach: Er wird mich lieben, so heiß und innig
wie ich ihn. Dazu muss er aber leben.
Natürlich belausche ich Vater und
Wilma jetzt skrupellos und intensiv. Es ist ganz einfach, Lucius hat es mir erklärt,
er hat mir auch im Intershop eine Gebrauchsanleitung zu unserem Festnetztelefon
geholt, damit ich mich keinesfalls im Internet orientiere. Obwohl mir technisch
keiner so schnell etwas vormacht, ist sicher eben sicher, also keine falschen Tasten
drücken. Das Ganze heißt
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