Folge dem weißen Kaninchen
Schwitzen zu geraten. Auch beim Sex schieden sich die Geister: In den sechziger Jahren wohnte der Mathematiker George Spencer-Brown auf dem Anwesen des englischen Philosophen Bertrand Russell, mit dem er täglich über Logik diskutierte. Der damals 93 -jährige Russell bat den jungen Kollegen, nicht vor halb zwölf zu ihren Besprechungen im Salon zu erscheinen, weil er am Vormittag mit seiner Frau Liebe mache. Spencer-Brown schreibt in seinen Erinnerungen, dass das Ehepaar die Schlafzimmertür offen ließ und er daher versichern könne, dass Russell es wirklich ernst meinte. Ganz anders dachte der Philosoph und Kirchenvater Augustinus, dem zufolge die wichtigste Funktion der Ehe sei, dass sie durch Monotonie die Fleischeslust abtöte.
Der Körper und die Äußerlichkeiten waren also immer präsent. Der Umgang mit dem eigenen Fleisch hatte dabei keinen systematischen Einfluss auf die Theorien der jeweiligen Philosophen. Dennoch ist es verwunderlich, dass kaum jemand danach fragte, wie wir unseren Körper erleben, zumal wir ihn ja ständig mit uns herumtragen. Die wissenschaftliche Missachtung der Funktionsweisen des Körpers hat vermutlich einen viel banaleren Grund: Bis vor einiger Zeit fehlten einfach genaue Beschreibungen skurriler Störungen und bizarrer Experimente. Solange nichts schiefläuft, verrät uns die eigene Erfahrung nämlich wenig über unser Körpergefühl. Wir können die Augen schließen, die Ohren verdecken, die Nase zuhalten. Aber Gleichgewicht, Berührung und Körperlage fühlen wir ständig, ohne sie abschalten zu können. Der Körper ist immer da, erlangt jedoch selten Prominenz im Bewusstseinsstrom. Da sich auch die experimentelle Psychologie zuerst auf die Fernsinne konzentrierte, das Sehen und Hören, entsprangen hier die philosophischen Probleme. Aus den experimentellen Wissenschaften und vor allem aus der eigenen Erfahrung wussten Philosophen außerdem immer schon viel über die «höhere Kognition»: Denken, Wissen und Sprache. Fühlen, Empfinden und Bewegen blieben so weitgehend unberührt, eben weil sie oft als flüchtig und automatisiert erlebt werden. Erst als sich Psychologen und Mediziner systematisch mit den körperlichen Erlebnissen befassten und Sonderbares zutage förderten, ließen auch die Philosophen die Muskeln spielen. Seitdem ist überall auf Konferenzen und Buchtiteln von «embodiment» die Rede, der «Verkörperung».
Der verkörperte Geist
Körperphilosophie und Körperpsychologie bilden zusammen ein noch junges Forschungsprogramm. Allerdings hat das Fachwort «Verkörperung» wie das Alltagswort «Körper» mehrere Bedeutungen. Und so verfolgen die Anhänger mit ihrer Betonung des Körpers auch ganz unterschiedliche Ziele. Einige wollen lediglich das Körperbewusstsein untersuchen und beispielsweise erklären, warum wir uns eben nicht selbst kitzeln können. Andere wenden sich gegen einen Dualismus, der sagt, Geist und Körper seien voneinander getrennte Substanzen. Wieder andere kritisieren den in der Psychologie über Jahrzehnte dominanten Funktionalismus, dem zufolge das Bewusstsein als ein Computerprogramm aufgefasst werden kann, für das die physische Grundlage keine Rolle spiele.
Bei genauerer Betrachtung erschaffen die letzten beiden Positionen Scheingegner, die so überspitzt falsch dargestellt sind, dass man sie leicht kritisieren kann. Man nennt dieses unredliche Manöver daher auch
Strohmann-Argument
. So vertritt schon seit langer Zeit kaum noch jemand ernsthaft eine dualistische Position. Und auch die Zahl der eingefleischten Computer-Funktionialisten kann man an einer Hand abzählen.
Einige Vertreter des Verkörperungsansatzes sind weniger kämpferisch als ihre Kollegen und unterstreichen einen anderen Aspekt. Ihnen zufolge spielen Körperempfindungen auch bei denjenigen geistigen Fähigkeiten eine Rolle, die man traditionell für davon unabhängig hielt. Nicht nur, dass wir mit den Fingern zählen, mit den Händen reden und mit unseren Füßen und Ellenbogen Längen messen. Auch das Denken selbst könne man als eine Art Bewegungsprogramm auffassen, dem wir «Schritt für Schritt» folgen, bis wir ein Problem «begreifen». Außerdem seien Gefühle körperlich erlebte Warnsysteme: Das Zittern und Herzklopfen der Angst warnen uns vor Gefahr. Und selbst die visuelle Wahrnehmung sei ein Einfühlen und Anfühlen: Wir sähen nicht bloß das Bärenfell vor dem Kamin liegen, sondern wir spürten gleichsam, wie wir mit den Fingern hindurchstreichen.
Das
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