Folge dem weißen Kaninchen
Markenzeichen «Verkörperung» funktioniert also ähnlich wie «Bio»: Es steht für ganz unterschiedliche Interessen und ist fast durchgängig positiv besetzt. Außer einem soliden Markenbewusstsein verfügen die Körperfreunde aber auch über handfeste Forschungsergebnisse. Bei der Untersuchung des Körpererlebens sind zwei Fragen besonders einschlägig: Wie erfühle ich, wo sich mein Körper befindet? Und wie erfühle ich, wo er aufhört? Fangen wir mit den Körpergrenzen an.
Der gefühlte und der gedachte Körper
Wer morgens im Dunkeln aufwacht, weiß sofort und ohne hinzusehen, ob er auf dem Rücken oder Bauch liegt. Ebenso fühlt man, wo der eigene Körper endet: Der große Zeh und die Fingerkuppe des Zeigefingers gehören noch dazu, das Kopfkissen nicht mehr. Meine Hand gehört zu mir, denn sie ist Teil meines Körpers. Meine Armbanduhr gehört nicht in dieser Weise zu mir. Wie könnte das jemals anders sein?
Tatsächlich braucht es nicht viel, um die Illusion zu erleben, ein fremdes Objekt gehöre zum eigenen Körper. Seit etwa zehn Jahren experimentieren Psychologen mit der sogenannten «rubber hand illusion», der
Gummihandillusion
. Der Versuchsaufbau ist dabei so einfach, dass man ihn zu Hause nachbauen kann. Die Versuchsperson sitzt vor einem Tisch und legt die eine Hand auf die Platte und die andere auf den Oberschenkel darunter. Nehmen wir an, die Rechte ruht auf der Tischplatte. Nun legt man eine Gummihand daneben, dorthin, wo sich normalerweise die Linke befinden würde. Die meisten Psychologen benutzen realistische Modelle, aber der Versuch funktioniert auch mit gefüllten Haushaltshandschuhen. Der Versuchsleiter streicht nun gleichzeitig mit einem Pinsel über die auf dem Knie ruhende linke Hand und die Gummihand. Die Versuchsperson spürt also die Berührung an ihrer Linken, sieht aber nur, wie die Gummihand gestreichelt wird. Nach nur wenigen Minuten hat sie dann den Eindruck, die Gummihand gehöre zu ihrem Körper und werde von dem Pinsel berührt, und das, obwohl sie weiß, dass die Attrappe nicht einmal mit dem Körper verbunden ist. Mehr noch: Nähert man sich mit einem Messer der Gummihand, bekommt die Versuchsperson Herzklopfen und hat Angst, an «ihrer» Hand verletzt zu werden. Und wenn man sie auffordert, mit ihrer Rechten ihre Linke anzufassen, dann greift sie nicht unter den Tisch, sondern in Richtung der Gummihand.
Psychologen sprechen hier von einer
Illusion
, weil man sich gegen den Effekt nicht wehren kann, obwohl man weiß, dass es nicht die eigene Hand ist. Wir alle kennen optische Illusionen wie die Müller-Lyer-Täuschung: zwei gleichlange Linien, an deren Enden Pfeilspitzen nach innen oder außen zeigen. Selbst wenn wir nachmessen und genau wissen, dass beide Linien gleich lang sind, erscheint es doch so, als wäre die Linie mit den nach außen gerichteten Pfeilspitzen länger. Genau das macht Illusionen aus: Sie sind gewöhnlich nicht durch unser Wissen oder Nachdenken auslöschbar. Wir können uns nicht vornehmen, die Pfeile als gleich lang zu sehen. Ebenso beim Gummihandversuch: Wir können uns nicht vornehmen, die falsche Hand als falsche Hand zu sehen. Es geht übrigens noch krasser: Der Effekt tritt auch ein, wenn man einen Schuh auf den Tisch legt oder einfach nur die Tischplatte synchron zu der versteckten linken Hand streichelt. Die Probanden sagen dann, es fühle sich an, als ob der Schuh oder der Tisch zu ihrem Körper gehöre.
Der Versuch ist nicht nur lustig, sondern verrät uns etwas über die Funktionsweise unseres Geistes. Von der Täuschung kann man zweierlei ableiten. Erstens: Das Gefühl für unsere Körpergrenzen ist durch das, was wir über unseren Körper wissen und denken, nicht direkt beeinflussbar. Zweitens: Mehrere Sinne können an dem Gefühl für Körpergrenzen beteiligt sein, wobei das Sehen das Fühlen übertrumpft. Daher spricht man auch von einer «multisensorischen Illusion». Wäre das Fühlen dominant, dann würden die Versuchspersonen immer unter den Tisch greifen, um ihre linke Hand mit der rechten zu berühren.
Ohne diesen Versuch zu kennen, hat der österreichisch-deutsche Philosoph Edmund Husserl schon vor etwa einem Jahrhundert eine Unterscheidung vorgeschlagen, mit der man die Illusion besser verstehen kann, nämlich die zwischen dem
erlebten Körper
, den er
Leib
nannte, und dem
objektiven Körper
. Seinen Körper zu erleben, also einen Leib zu haben, heißt Husserl zufolge, aus der Innenperspektive zu spüren, wo man
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