Folge dem weißen Kaninchen
erinnert an Horrorfilme, in denen Spiegelbilder zum Leben erwachen. Die Illusion der Fremdheit entsteht vermutlich durch die Unstimmigkeit zwischen den gefühlten Bewegungen der Augen und dem starren Blick des Gegenübers. Psychologen haben dieses Phänomen noch nicht systematisch untersucht. Man könnte das parallel zum Kitzelversuch erklären. Die gespeicherte Bewegungskopie sagt, dass die Augen sich bewegen. Das passt nicht zu dem, was wir im Spiegel sehen. Irgendwie entsteht durch diese Schieflage die Illusion, dass unser Gegenüber ein fremdes Wesen sein muss. So als wären wir selbst einige Augenblicke schizophren.
Philosophisches Bodybuilding
Gesunde Menschen können sich also nicht selbst kitzeln. Einige Patienten merken nicht, dass sie halbseitig gelähmt sind, und Epileptiker haben manchmal das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. Diese Entdeckungen aus der Psychologie und Neurowissenschaft werfen grundlegende philosophische Fragen auf: Wie bekommen wir Informationen über unseren eigenen Körper? Und vor allem: Warum sind wir so anfällig für körperliche Störungen und Illusionen?
Über die Jahrhunderte war der Körper selten ein Thema unter den Denkern. Man fragt sich, warum es so lange gedauert hat, bis die Philosophie ihn entdeckte. Einige sehen den Grund dafür in der
Leibfeindlichkeit
der abendländischen Kultur: Die Denker hätten noch nie viel für das eigene Fleisch übrig gehabt. Nun kann man allerdings auf mindestens zwei Arten leibfeindlich sein: Einerseits, indem man den eigenen Körper für minderwertig erachtet, vielleicht weil die fleischlichen Begierden beim Forschen stören. Andererseits kann man den Körper auch einfach für wissenschaftlich wenig ergiebig ansehen. Glaubt man Nietzsche, dann lag beides schon immer nahe beieinander. Schuld daran seien Platon und das von ihm beeinflusste Christentum. Platon zufolge kann man nur dann Wissen erlangen, wenn man sich vom Körper löst. Was den Menschen ausmache, sei seine immaterielle Seele, für die der Körper ein Grab darstelle, aus dem sie befreit werden müsse.
Laut Nietzsche hat die platonische Überhöhung der Seele zu einer Abstufung der Körperlichkeit geführt, von der sich auch die Lustfeindlichkeit des Christentums herleitet. Tatsächlich suggeriert die Metapher vom Körper als Gruft nicht gerade, dass das Leben ein Karnevalsumzug ist. Und da «Körper» sehr weit verstanden werden kann, lag es nahe, nicht nur Sex und Lust zu verdammen, sondern auch Genuss, Sport, Mode und Chichi. Das Gegenmodell betont dabei immer das Innerliche, Echte, Eigentliche – das, was wir in der Seele empfinden. Wenn wir heute im Alltag anderen vorwerfen, «materialistisch» zu sein, dann sagen wir noch genau das: Sie sind nur an Äußerlichkeiten interessiert und nicht an den «inneren Werten». Wer «oberflächlich» ist, dem geht es nicht um die Seele, sondern nur um die Oberweite (Männer) oder um Schuhe von Louboutin (Frauen).
Wenn überhaupt, dann ist die Geringschätzung von Äußerlichkeiten allerdings kein Merkmal der Philosophie allein, sondern der gesamten Wissenschaft: Die Wahrheit zählt, nicht die Frisur. Genau genommen ist aber in der Wissenschaft das Verhältnis zum eigenen Körper seit jeher eine Frage des Typs und nicht der Disziplin. Philosophen fand man immer schon an beiden Extrempunkten. Und überall dazwischen.
In der Antike verbrachten die jungen Denker ihre Tage im
Gymnasion
, einem Nudistencamp mit Spa, Sportanlage und angeschlossener Bibliothek. Tagsüber traten sie eingeölt zum Faustkampf an, bevor sie nachmittags zur Entspannung die Pergamentrollen öffneten, um sich von den Leibesertüchtigungen zu erholen. Der Komödiendichter Aristophanes, ein Zeitgenosse von Platon und Sokrates, lobt diese Einheit aus Körper und Geist in seinem Stück
Die Wolken
. Darin warnt eine Figur vor einem neuen Trend zum Stubenhocken und der daraus folgenden Unsportlichkeit: «Doch wenn du es treibst nach der Mode von heut, dann wird dein Gesicht bleichsüchtig und gelb, deine Schultern gedrückt und schmächtig die Brust, deine Zunge wird lang, weit offen dein Maul und groß dein Gemächt und flach dein Gesäß!»
Auch in späteren Epochen war die Begeisterung für Sport eher eine Typfrage: Während der englische Philosoph Thomas Hobbes noch mit 75 Jahren Tennis spielte, hatte Kant Angst, seine Körperflüssigkeiten zu verlieren. Daher war er bei Spaziergängen peinlich darauf bedacht, immer durch die Nase zu atmen und nicht ins
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