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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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Theorie blieb nicht unwidersprochen. Einer seiner prominentesten Kritiker ist der amerikanische Anthropologe und Primatenforscher Michael Tomasello, der am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht. Wie Chomsky lehnt auch Tomasello den Behaviorismus ab, argumentiert aber gegen ein eigenständiges Sprachorgan. Er glaubt, dass der Mensch durch seine Fähigkeit zur Kooperation den Tieren die Sprachfähigkeit voraus hat. Statt einer Universalgrammatik nimmt Tomasello eher universelle Denkstrukturen an, speziell angeborene Nachahmungsprinzipien.
    Kinder können sich nämlich schon im jungen Alter auf Objekte außerhalb ihrer Reichweite beziehen, und sie können anderen etwas zeigen. Affen hingegen jagen und essen zwar gemeinsam, kommunizieren auch mit ihren Artgenossen und beeinflussen deren Verhalten, aber sie zeigen weder mit den Händen, wo Futter liegt, noch lenken sie zusammen mit anderen ihre Aufmerksamkeit auf Futter. So halten sie auch nie Objekte in die Höhe, damit andere sie betrachten können. Kurz: Im Gegensatz zu Menschen kommunizieren Affen nicht mit dem Ziel, anderen etwas mitzuteilen.
    Tomasello geht davon aus, dass Sprachlernen nur im Kontext der Kooperation funktionieren kann, also wenn wir unsere Handlungsabsichten und unsere Aufmerksamkeit aufeinander abstimmen und mit anderen teilen. Daher nimmt Tomasello auch an, dass nicht Laute, sondern Gesten die entscheidende Rolle bei der Entstehung der menschlichen Sprachfähigkeit spielten. Alle menschlichen Normen, zu denen er auch die Sprachregeln zählt, seien aus dieser Kooperation durch zweckorientierte Verallgemeinerung entstanden.
     
    So wichtig Tomasellos Forschung ist, um die menschliche Kooperation zu verstehen, sie geht an Chomskys These eines angeborenen Sprachorgans vorbei, denn man kann mit ihr nicht erklären, warum unsere Grammatik rekursiv und daher produktiv ist, und vor allem, warum bestimmte Satzkonstruktionen unmöglich sind. Ein Beispiel: Zum Zweck des Kontrasts können wir im Deutschen betonte Satzteile nach vorne stellen: «
Er
ist dein Vater (und nicht der andere)» oder «
Dein
Vater ist er (und nicht ihrer)» und so weiter. Doch der Satz «Dein Vater er ist» ist ungrammatisch, auch wenn Meister Yoda aus
Star Wars
so spricht. Chomskys Grammatiktheorie kann dieses Phänomen erklären. Tomasello und seine Kollegen haben aus prinzipiellen Gründen keine Erklärung dafür, denn ihnen zufolge führt die mentale Grammatik kein Eigenleben.
    Es spricht also viel dafür, dass zumindest unsere Grammatik angeboren ist, vermutlich aber noch weitere Teile unserer Sprachfähigkeit. «Schlau wir dank der Sprache sind, angeboren sie ist», würde Yoda sagen.

Philosophie als Sprachtherapie
    Sprachwissenschaftler und Philosophen untersuchen die Sprache mit Werkzeugen der Mathematik. Die Philosophie bestimmt bis heute die Grundlagenforschung in der Sprachtheorie. Umgekehrt spielt die Sprache auch eine große Rolle für das Handwerk der Philosophie, denn sie ist nicht nur Gegenstand, sondern gleichzeitig Medium der Forschung.
    Wittgenstein war nicht nur einer der einflussreichsten Sprachphilosophen, er hat auch lange über eine zentrale Frage nachgedacht: Was ist eigentlich ein philosophisches Problem? In seinem Spätwerk vertrat er die Auffassung, dass Philosophie vor allem in einer genauen Untersuchung der Alltagssprache bestehen solle.
    Dieser neue Impuls wird manchmal
linguistic turn
genannt, die
sprachliche Wende
in der Philosophie. Ein echter Drehpunkt war das jedoch nicht, denn gute Philosophen haben sich schon immer mit unseren allgemeinsten Begriffen beschäftigt, die nach moderner Auffassung die Kategorien unseres Denkens sind. Philosophen unterscheiden zwischen Begriffen und Wörtern. Im Deutschen ist «hungrig» das Gegenteil zu «satt», aber für das Gegenteil von «durstig» kennen wir kein gebräuchliches Wort. Dennoch haben wir den Begriff: Wir wissen, was es heißt, nicht mehr durstig zu sein. Um über Begriffe zu diskutieren, benötigen wir Wörter, insofern war die Philosophie schon immer an der Sprache ausgerichtet. Neu war jedoch Wittgensteins Einsicht, dass unsere eigenen Wörter uns vom klaren Denken abhalten und in die Irre leiten können.
     
    Traditionell sahen Philosophen Begriffe als Definitionen an. Ähnlich wie in einem Lexikon könnte dann in unserem Gedächtnis bei «Junggeselle» «unverheirateter junger Mann» stehen. Aufgabe der Philosophie war daher, diese Definitionen

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