Folge dem weißen Kaninchen
Jahre alt war, hatte ich eine Erleuchtung. Damals spazierte ich auf eine eigentümliche Weise von der Schule nach Hause, denn ich stellte mir vor, die herabgefallenen Herbstblätter seien Tretminen, die ich nicht berühren dürfte. Während ich so im Zickzack die Straße hinunterlief, ging auch mein Geist auf Wanderschaft. Damals war ich überzeugt, dass Gott die Gedanken aller Menschen hören könne. Ich versuchte oft, einen Gedanken zu fassen, ohne ihn lautlos im Geiste zu sprechen. Irgendwie hoffte ich, dass solche Gedanken Gott verborgen bleiben würden. Ich entwickelte sogar eine Methode, im Vordergrund meines Gedankenraumes lautlos zu sprechen, zum Beispiel ein Gedicht aufzusagen, während ich im Hintergrund ungestört meinen eigentlichen Gedanken nachging, so wie Geheimagenten im Film die Musik lauter drehen, damit sie nicht abgehört werden können. Doch mir wurde schnell klar, dass alle Tricks vergeblich waren. Wenn Gott allmächtig ist, dann kann er auch die Hintergrundgeräusche wahrnehmen. Doch dann kam mir plötzlich ein anderer Gedanke: Warum soll ich überhaupt annehmen, dass mir jemand zuhört? Darauf gab es keine Antwort. Und so wurde ich Atheist.
Vielleicht hat es geholfen, dass ich nicht in einer religiösen Familie aufgewachsen bin, denn die meisten Gläubigen glauben das, was ihre Eltern glauben. Der Nichtglaube fällt leichter, wenn man niemals gebetet hat oder von den Nachbarn komisch beäugt wurde, weil man sonntags nicht in der Kirche war. Natürlich gehört zu einem ausgereiften Atheismus mehr als nur der Zweifel daran, dass man von ganz oben abgehört wird. Doch die Frage «Warum soll ich diese Annahme machen?» charakterisiert ein Grundmotiv der atheistischen Skepsis. Weitaus komplexer ist die Frage: Warum glauben überhaupt so viele Menschen an höhere Wesen oder eine höhere Kraft? Die elterliche Autorität allein kann das nicht erklären. Aber vor allem: Wer ist das eigentlich, Gott?
Gott und Götter
Der Glaube an einen einzigen Gott, der
Monotheismus
, kommt in mindestens drei Spielarten vor. Dem
Theismus
zufolge hat Gott die Welt erschaffen und greift auch in den Weltlauf ein. Der
Deismus
besagt, dass Gott die Welt zwar erschaffen hat, aber nicht in den Weltlauf eingreift. Laut
Pantheismus
mag Gott die Welt erschaffen haben oder nicht, in jedem Fall ist er im gesamten Universum vorhanden.
Die meisten Gläubigen sind sicherlich Theisten im engeren Sinne. Wer meint, seine Gebete würden manchmal erhört, und wer glaubt, es geschähen noch Wunder, der nimmt zumindest stillschweigend an, dass Gott mit den Menschen und dem Universum interagiert: Er lauscht, schaltet sich ein und spricht zu seinen Auserwählten. Der Theismus wirft schwierige Fragen auf: Warum mischt Gott sich nur manchmal ein? Warum erhört er manche Gebete und andere nicht?
Aber vor allem: Warum hat er die Welt nicht gleich perfekt geschaffen und muss ständig nachjustieren? Diese Frage betrachten Deisten als Einwand gegen den Theismus. Man kann sie anhand eines Uhrenvergleichs verdeutlichen. Schon die Antike war von der Harmonie des Weltlaufs fasziniert, vor allem von den Sternenbildern. Das altgriechische Wort «Kosmos» steht für «Ordnung», «Schmuck» und «Weltall». Bevor man Computer kannte, war die Uhr lange Zeit das raffinierteste Wunderwerk der Technik. Sie war Ordnung und Schmuck zugleich. Es lag nahe, das Weltall als eine große Uhr anzusehen. Das tat auch der Deist Leibniz, als er Newton für dessen theistische Position kritisierte. Leibniz hält das Universum für eine Art Schweizer Präzisionsuhr, die man weder aufziehen noch neu stellen muss. Er fragt Newton sinngemäß, warum Gott in seiner Allmacht nur eine batteriebetriebene Quarzuhr hinbekommen haben soll, die nicht einmal wasserdicht ist.
Doch auch der Deismus ist problematisch, denn was bleibt von Gott, wenn er keine Gebete erhört und keine Wunder vollbringt? Für viele Gläubige reicht ein Deismus wie der von Leibniz, Voltaire oder Lessing nicht aus. Denn bei einem abwesenden Gott wären Gebete bloß private Meditationen. Der Deismus ist eine theologische Sparversion, die der Praxis und Vorstellung der meisten Gläubigen nicht entspricht, seien es Juden, Christen oder Muslime.
Der Pantheismus klingt da auf den ersten Blick wie eine großzügige Alternative: Gott ist alles oder in allem. Bei genauerer Betrachtung ist fraglich, was das überhaupt für eine Position ist. Wenn wir über alles sprechen, sagen wir «All», «Welt» oder
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