Folge dem weißen Kaninchen
zu ihrem sechsten Lebensjahr eine eigene Zeichensprache, wurde aber nicht immer verstanden. Erst als die Sprachtrainerin Anne Sullivan anfing, ihr Wörter in die Hand zu buchstabieren, änderte sich Kellers Leben schlagartig. In nur kurzer Zeit lernte sie auf diese Weise Englisch. Später konnte sie sogar Wörter erfühlen, indem sie lediglich die Hände auf die Lippen und den Kehlkopf ihres Gegenübers legte. Keller besuchte die Universität und war die erste Taubblinde, die einen Bachelor machte. Sie lernte sprechen, wurde eine weltberühmte Rednerin, schrieb zwölf Bücher und setzte sich als politische Aktivistin für das Frauenwahlrecht in Amerika ein.
Ebenso beispiellos wie ihr Lebensweg war die Tatsache, dass sie Englisch nicht über die Laute und Wörter lernte, sondern direkt über Buchstaben, die sie fühlte. Wie kann das sein, wenn doch gesunde Kinder viel Zeit und Fleiß darauf verwenden, die Laute der Sprache in Buchstaben zu übertragen? Wäre diese Übertragung einfach, gäbe es nicht so viele Rechtschreibfehler. Kellers Fall spricht dafür, dass unsere Sprachfähigkeit angeboren ist. Das kindliche Hirn ist so flexibel, dass der Sprachinput nicht nur aus Lauten, sondern auch aus Gesten und Berührungen bestehen kann.
Die Angeborenheitsthese hat der amerikanische Linguist Noam Chomsky Mitte des letzten Jahrhunderts als erster exakt formuliert. Chomskys Lebensgeschichte ist ebenfalls beeindruckend: Mit 29 Jahren veröffentlichte er ein Kapitel aus seiner Doktorarbeit und revolutionierte damit nicht nur die Sprachwissenschaft, sondern die gesamte Psychologie. Seine linguistischen, philosophischen und politischen Schriften sind bis heute so einflussreich, dass er der meistzitierte lebende Autor ist und auf Tabellenplatz sieben der Meistzitierten aller Zeiten liegt: hinter Aristoteles, Platon und Marx, aber noch vor Hegel und Cicero.
Chomskys These lautet: Wir alle kommen mit einer angeborenen
Universalgrammatik
auf die Welt, die den Erwerb der einzelnen Sprachen steuert. Das Revolutionäre an dieser These kann man nur vor dem Hintergrund der Psychologie der fünfziger Jahre verstehen. Damals herrschte der
Behaviorismus
vor, der besagt, dass eine wissenschaftliche Psychologie nur über das Verhalten von Menschen sprechen darf, nicht aber über deren Innenleben. Der Behaviorismus ist vor allem für das
Konditionieren
bekannt, das wir vom Pawlow’schen Hund kennen: Der russische Psychologe Iwan Pawlow wies nach, dass man bei Tieren Reflexe mit neuen Reizen kombinieren kann. Bekommen Hunde Futter, läuft ihr Speichel besonders stark. Hören sie dabei immer eine Klingel, fließt der Speichel bald auch dann, wenn nur die Klingel ertönt. Pawlow hat seine Hunde durch Reizverstärkung auf den Ton der Klingel konditioniert.
Die Behavioristen glaubten nun, dass auch wir Menschen alles über diese Art von Konditionierung erwerben: Gefühlsausdrücke und Sprache ebenso wie Fahrradfahren oder Umgangsformen. Der Mensch hat demzufolge nur einen einzigen angeborenen Lernmechanismus: die Verstärkung.
Um die Verstärkungsthese zu widerlegen, greift Chomsky eine Idee des deutschen Philosophen Wilhelm von Humboldt auf: Wenn wir sprechen, machen wir von «endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch».
Endlich
, weil unser Gedächtnis begrenzt ist und wir nur eine begrenzte Anzahl von Wörtern und Grammatikregeln gelernt haben können.
Unendlich
, weil wir damit Sätze erzeugen und verstehen können, die wir nie zuvor gehört haben, wie: «Der schwermütige Prinz fliegt auf seinem rotweißen Greif über die Nebelwälder des Felsenlands.» Obwohl der Satz neu ist, wissen wir sofort, dass er grammatisch korrekt ist.
Unsere Sprache ist in dieser Weise kreativ und produktiv, weil sie
rekursiv
ist: Wir können Teile wieder in andere einsetzen. Aus «der Prinz» wird so «der schwermütige Prinz», und daraus könnte «der schwermütige und von allen bewunderte Prinz» oder «der schwermütige, von allen bewunderte und niemals verstandene Prinz» werden und so weiter. Unser Sprachzentrum im Kopf kann man als ein Programm ansehen, das beliebig lange Sätze des Deutschen erzeugt und verarbeitet. Chomskys brillante Idee war, zu zeigen, dass allen Grammatiken derselbe Bauplan zugrunde liegt: die angeborene Universalgrammatik.
Hätte das Kind keine Universalgrammatik, sondern bloß die Reizverstärkung der Behavioristen, so Chomsky, könnte es anhand der Sprachdaten von Eltern und Verwandten unendlich viele falsche Grammatiken
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