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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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aufzuschlüsseln, etwa indem man Gerechtigkeit als «Balance» analysiert oder «Wissen» als eine «wahre, gerechtfertigte Überzeugung». Philosophische und psychologische Studien haben aber gezeigt, dass nur wenige Begriffe als Definitionen in unserem Gedächtnis abgelegt sind. Das neue Projekt der Philosophie liegt deshalb darin, die innere Struktur von Begriffen und ihre Verbindung zu anderen aufzudecken, beispielsweise dass «Zeit», «Veränderung» und «Verursachung» eng zusammenhängen.
    Wittgenstein betont neben der Begriffsanalyse eine zweite Aufgabe der Philosophie, und zwar die
Therapie
: Schlechte Philosophie ist dieser Metapher zufolge eine Krankheit, die man durch Rückgriff auf die Alltagssprache kurieren kann.
    Besonders große Nomen wie «das Ich» oder «die Differenz» haben wie ein Virus die Gedankengänge vieler Philosophen befallen. Ein Beispiel: Martin Heidegger zufolge muss die Philosophie nach dem «Sinn von Sein» fragen, wobei das «Sein» nichts ist, was man beschreiben oder kategorisieren kann. Um uns herum gebe es nur «Seiendes», also Dinge und Ereignisse wie Bakterien, Autos oder das Weihnachtsfest. Heidegger nahm die Unausdrückbarkeit so ernst, dass er Studenten aus seinem Seminar hinauswarf, wenn sie fragten, was denn eigentlich mit «Sein» gemeint sei. Dabei ist die Frage entscheidend. Im Deutschen hat das Hilfsverb «sein» drei Funktionen: die
Verbindung
von Nomen und Adjektiv in «Das Gras ist grün», die
Identität
in «Der Gärtner ist der Mörder» und nur äußerst selten die
Existenz
wie in «Großvater ist nicht mehr». Aus dieser letzten Verbalform machte Heidegger ein Nomen und gründete darauf seine ganze Philosophie.
    Heidegger formulierte auch Sätze wie: «Der Platz ist je das bestimmte ‹Dort› und ‹Da› des
Hingehörens
eines Zeugs.» Das klingt sicherlich gelehrter als «Alles hat seinen Ort», aber es sagt dasselbe. In seinem Spätwerk ist er noch kreativer: Der «Einblick» wird zum «Einblitz», das «Ereignis» zum «Eräugnis». Die Bedrohung der Technik: «Das Gestell west
als
die Gefahr.» Dabei handelt es sich allerdings nicht um Wortspiele, und schon gar nicht um Humor oder Ironie, die Heidegger fremd waren. Wittgenstein vertrat die Auffassung, dass bei solcher Fabulierlust nur schlechte Philosophie herauskommen könne. Wenn auch nicht auf Heidegger gemünzt, war Wittgensteins Diagnose: Wenn die Sprache
«feiert»
, entstehen Scheinprobleme.
     
    Auch andere philosophische Strömungen waren nicht vor einem hochtrabenden Fachjargon gefeit. Der österreichische Philosoph Karl Popper analysierte Aussagen der
Frankfurter Schule
, die sich vor allem mit sozialen und politischen Themen befassten, und übersetzte sie in einfaches Deutsch. Aus Theodor W. Adornos «Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefassten, aus dem sie selbst besteht» wird «Die Gesellschaft besteht aus den gesellschaftlichen Beziehungen». Und Habermas’ These «Sie erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt» wird einfach «Sie sind auf ein spezielles Gebiet anwendbar, wenn sie anwendbar sind».
    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass gerade auf junge Studenten eine starke Sogwirkung von dieser fremden Wortwahl ausgehen kann: nicht nur eine elitäre Geheimsprache zu beherrschen, sondern Bekanntes und Triviales mit kleinen Aha-Effekten wiederzuentdecken, meist verbunden mit der Zuversicht, im absurden und unverständlichen Rest würden tiefe Weisheiten schlummern.
    Es braucht einige Zeit, diesem Sog zu widerstehen: manchmal so lange, bis man merkt, dass die geschraubte Ausdrucksweise wie ein falsches Gebiss wirkt. Wittgenstein und Popper helfen dabei, einige Giganten der Philosophie als Scheinriesen zu entlarven, indem man ihre Einschüchterungsprosa entzaubert.
    Die Magie der Sprache liegt anderswo: Wir haben nur eine endliche Zahl an Wörtern, Bedeutungen und grammatischen Regeln in unserem Gedächtnis und können damit unendlich viel sagen und verstehen. Unsere Sprachfähigkeit ist angeboren und hebt uns von anderen Tieren ab. Wenn wir kommunizieren, nutzen wir all unsere Fähigkeiten: unsere Sprachfähigkeit und unser Wissen über andere Menschen und den Rest der Welt. Sie ermöglichen uns etwas, das von klein auf Spaß macht: mit der Sprache zu spielen.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 3 Glauben Der Gott im Gehirn
    Als ich etwa dreizehn

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