Folge dem weißen Kaninchen
entwickeln. Das tun Kinder aber nicht. Unabhängig von Intelligenz, Aufmerksamkeit und Interesse, beherrscht jedes Kind schon im Grundschulalter alle wesentlichen Strukturen seiner Muttersprache. Das ist umso erstaunlicher, weil der Kontakt mit sprachlichen Daten ganz individuell ist, denn jeder hört andere Sätze. Außerdem sind die Sprachdaten oft unvollständig und fehlerhaft. Und Kinder werden nicht konsequent und systematisch korrigiert. Sie können also gar nicht gelernt haben, dass ein Satz wie «Die scheint Sonne» ungrammatisch ist. Umgekehrt deuten Sprachfehler von Kindern oft auf ein Verständnis der grammatischen Regeln hin. Mit «Er reitete» statt «Er ritt» machen sie die Sprache regelmäßiger, als sie ist.
Mit diesem
Argument von der Armut des Stimulus
hat Chomsky entscheidend zum Untergang des Behaviorismus beigetragen. Man kann das Argument auch als Frage formulieren: Wie können wir so viel wissen, obwohl wir nur so wenige Hinweise haben? Wenn unser grammatisches Wissen nicht erlernbar ist, müssen wir es schon vorher gehabt haben. Mit anderen Worten: Es ist angeboren. Unser Sprachzentrum im Kopf kann man sich als ein Organ wie das Herz oder die Leber vorstellen: Es arbeitet im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten, hat aber seine eigene autonome Funktionsweise. Chomskys Kollege, der Entwicklungspsychologe Steven Pinker, spricht von einem
Sprachinstinkt
. Die Idee eines angeborenen Organs, das wie ein Computerprogramm abläuft, haben Psychologen bald auf andere mentalen Fähigkeiten angewandt wie zum Beispiel unsere Wahrnehmung von Gegenständen oder Gesichtern.
Bei «Sprachorgan» denkt Chomsky allerdings nur an unsere mentale Grammatik, nicht an unsere gesamte Sprachfähigkeit. Unsere grammatischen Intuitionen sind robust und verlässlich: Wir wissen bei vielen Sätzen sofort, ob sie syntaktisch wohlgeformt sind oder nicht, auch wenn wir nicht sagen können, warum. Für die Autonomie der mentalen Grammatik spricht also vor allem, dass sie unabhängig von den übrigen Anteilen des Sprachverstehens arbeitet. Zwei Beispiele: Ein Bekannter aus Osteuropa hatte einmal folgende Ansage auf seinem Anrufbeantworter: «Das ist AB , ich sprech von Band und du nach Piep.» Dieser Satz ist absolut verständlich, auch wenn er grammatisch nicht ganz korrekt ist. Der umgekehrte Fall ist auch denkbar: «Der Hund, der die Katze, die die Mäuse, die den Käse stahlen, fraß, jagte, schläft» ist ein grammatisch korrekter Satz des Deutschen, auch wenn er beim ersten Hören kaum verständlich ist.
Für die Angeborenheitsthese sprechen noch weitere Argumente. Erstens ist die Sprachfähigkeit
universell
: Jeder gesunde Mensch spricht eine Sprache. Zweitens ist Sprachlernen
unabhängig
von der Art der Wahrnehmung, wie Helen Kellers Beispiel zeigt. Drittens erwerben Kinder eine Sprache
mühelos
: Sie saugen neue Wörter und Strukturen auf wie Schwämme, ohne dass man mit ihnen üben müsste.
Viertens zeigen vor allem Krankheiten, Hirnschäden und Entwicklungsstörungen, dass auch Intelligenz und Grammatik unabhängig voneinander sind: Auf der Welt gibt es immer noch Kaspar-Hauser-Kinder, die isoliert ohne Sprachinput aufwachsen. Die junge Amerikanerin Genie ist einer der traurigsten Fälle. Ihre Eltern sperrten sie von Geburt an gefesselt in ein Zimmer ein. Als Genie mit dreizehn Jahren befreit wurde, bellte sie wie ein Hund. Doch trotz dieser grausamen Behandlung und ihrer unvorstellbar beeinträchtigten Kindheit war sie sehr intelligent. In der Therapie lernte sie schnell die Wörter des Englischen und konnte komplizierte Spielzeugmodelle nachbauen. Aber ihre Sätze waren bloße Wortreihen, frei von jeglicher Grammatik. Die Syntax, die weniger intelligente Jugendliche ihres Alters mühelos beherrschten, blieb Genie für immer verschlossen. Offenbar kann man das Zeitfenster verpassen, innerhalb dessen sich die mentale Grammatik in den Hirnstrukturen ausformt.
Bei Menschen mit dem seltenen
Williams-Beuren-Syndrom
ist die Lage genau umgekehrt. Sie haben oft einen so niedrigen Intelligenzquotienten, dass sie lebenslang Hilfe benötigen. Doch schon als kleine Kinder sind sie kontaktfreudig, musikalisch und lieben seltene Wörter wie «Säbelzahntiger». Später sprechen sie äußerst wortgewandt, fast poetisch. Auch dieser Fall spricht dafür, dass die Grammatik nicht an die Intelligenz gekoppelt ist. Die allgemeine Lernintelligenz kann dann auch nicht für den Spracherwerb verantwortlich sein.
Chomskys
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