Folge dem weißen Kaninchen
geschlossen. Es traf vor allem diejenigen, die beschreibend und interpretierend gearbeitet hatten. Ein Grund war der zunehmende Erfolg der konkurrierenden bildgebenden Neurowissenschaft, die sich wenig für die konkreten Trauminhalte interessiert. Ein weiterer Grund waren die mageren Ergebnisse, denn Traumlabore sind teuer. Der Trend zur rein neurowissenschaftlichen Traumforschung ist dennoch kurzsichtig, denn um Träume zu verstehen, reicht die Kenntnis der Hirnvorgänge allein nicht aus. Man muss auch verstehen, warum wir Träume als visuelle Geschichten erleben. Die moderne Forschung findet im besten Fall den Zusammenhang zwischen beiden Elementen: dem Erlebnis und der Hirnaktivität.
Wer ein Traumtagebuch schreibt, merkt schnell, dass man sich zunehmend an immer mehr Details erinnern kann. Auffällig ist auch, dass einige Träume wild und bizarr, andere ganz normal und realistisch sind. Und noch etwas ist offenkundig: Die Träume in der Literatur, Malerei oder im Film haben nicht viel mit realen Träumen zu tun. Machen wir also noch einen kleinen Abstecher zu den Künsten, bevor es an die Theorien geht.
Träume in der Kunst und Literatur
Als Alice dem weißen Kaninchen hinterherrennt, stürzt sie durch ein Erdloch in die Tiefe, landet nach einem langen freien Fall unversehrt auf dem Boden, trinkt aus einer Flasche mit dem Etikett «Trink mich!», schrumpft zu einer Zwergin, wird von einer Flutwelle erfasst und findet sich in einem wunderlichen Land wieder, in dem Tiere sprechen, ein verrückter Hutmacher haust und alle Kreaturen unter der Schreckensherrschaft einer schrillen Königin zittern.
Einer Standardinterpretation dieses Klassikers zufolge versinkt Alice durch ihren Fall in ein Wunderland des Traumes. Für diese Lesart spricht, dass in der Geschichte typische Traumelemente auftauchen, die oft als «bizarr» bezeichnet werden: Körperillusionen, veränderte Schwerkraft, plötzliche Ortswechsel. Auch Lewis Carrolls Originalmanuskript legt eine solche Interpretation nahe. Der Arbeitstitel lautete
Alice’s Adventures Under Ground
, also
Alice im Untergrund
. Das klingt fast so, als hätte er drei Jahrzehnte vor Freuds
Traumdeutung
die Auffassung eines Unbewussten vorweggenommen.
Trotz dieser Parallelen ist die Geschichte jedoch keine naturgetreue Traumbeschreibung und sollte es wohl auch gar nicht sein. Der Fall in die Tiefe ist sicher ein häufiges Motiv in Albträumen, doch sprechende Tiere sind eher typisch für Kinderbücher und Fabeln. Alice’ Überlegungen sind zwar manchmal sprunghaft, aber viel zu klar für Traumgedanken. Das Wunderland entspringt eher der lebhaften Phantasie eines Kindes, das imaginäre Freunde hat. Solche Tagträume ähneln ihren nächtlichen Namensvettern allerdings nur oberflächlich.
Überraschenderweise ist auch die Illustration der Traumwirklichkeit in der Malerei weit davon entfernt, die Natur der Träume zu treffen. Salvador Dalís Gemälde zum Beispiel gelten als traumartig: Landschaften formen sich zu Gesichtern, und Uhren zerfließen. Das ist aber eher typisch für halluzinogene Drogen wie Meskalin oder psychoaktive Wunderpilze. Wie andere Surrealisten hat Dalí seine Bilder passend zu Freuds Theorie gemalt. Das macht sie natürlich nicht weniger überzeugend, aber eher ungeeignet als Abbilder von Träumen.
Für das Kino gilt dasselbe. Hollywood ist die «Traumfabrik», liegt bei der Traumdarstellung aber oft daneben. Weil sich im Film geträumte Episoden von den normalen Szenen abheben müssen, sind sie oft weichgezeichnet, unterbelichtet oder gar schwarzweiß. Dabei gilt mittlerweile als gesichert, dass Menschen in Farbe träumen, trotz anekdotischer Berichte, dass in der Schwarzweißfilm-Ära Greta Garbo und Humphrey Bogart auch in Träumen monochromatisch auftraten.
Wenn man wissen will, wie Träume genau aussehen, darf man sich also nicht auf die Kunst verlassen, sondern muss in der eigenen Erinnerung graben. Und um die Traumeindrücke dann zu erklären, braucht man eine Theorie. Schauen wir uns also die Theorien genauer an.
Antike Traumtheorien
Schon vor Jahrtausenden gaben die Nachtgesichter den Menschen Rätsel auf. In der Antike bildeten sich zwei Traditionen heraus. Die eine sah Träume als verschlüsselte Botschaften an, als Warnungen oder Prophezeiungen von Göttern, Dämonen oder verstorbenen Vorfahren. Wer seine Träume nicht selbst deuten konnte, ging zu einem Seher. Entgegen dieser Annahme vertraten die antiken Ärzte Hippokrates und Galen eine
Weitere Kostenlose Bücher