Folge dem weißen Kaninchen
atheistischen Gefühle verletzt werden: Der Begriff eines allmächtigen Schöpfergottes ist in sich widersprüchlich, die Seele hat nichts mit uns zu tun, das Universum ist so faszinierend, dass es da nicht noch mehr geben muss, für unsere Moral sind wir selbst verantwortlich, und die demokratischen Wissensgesellschaften tendieren zu einem friedvollen Atheismus. Dieses Glaubensbekenntnis verbreitet sich zusehends. Gott sei Dank.
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Kapitel 4 Träumen Der Wahnsinn des Schlafes
Ich stehe im Schatten eines Betonrohbaus in einem verlassenen Industriegebiet. Von gegenüber nähert sich James Bond meinem Versteck mit gezogener Waffe. Er trägt eine schwarze kugelsichere Weste über seinem T-Shirt. Ich bin mir sicher, dass er mich nicht sehen kann. Doch plötzlich feuert er zwei Schüsse ab, die mich in die Brust und den rechten Arm treffen. Ich sehe an mir hinab und entdecke, dass auch ich eine kugelsichere Weste trage. Von den Kugeln spüre ich nichts, aber mein Arm fühlt sich schlagartig taub an und hängt bewegungslos am Körper herab … In diesem Moment erwache ich. Es war alles nur ein Traum.
Was bedeutet er? Man könnte ihn als Wunschtraum interpretieren: Welcher Mann hat sich nicht schon einmal ausgemalt, in der Welt von James Bond zu leben? Aber womöglich verrät der Traum noch mehr über mein Innenleben: Zeigt nicht gerade die gleichartige Kleidung, dass es sich bei dem britischen Geheimagenten um mein
Alter Ego
handelt, ich also einen Kampf mit mir selbst ausfocht? Auch die homoerotischen Motive scheinen offensichtlich zu sein: der schlaffe Arm hier, das Mündungsfeuer der Pistole dort. Will ich so rau und aufgepumpt sein wie Daniel Craig und ihm damit vielleicht nicht nur metaphorisch ganz nahe sein?
Wir alle verspüren den Impuls, Träume als Reisen durch das Unbewusste anzusehen. Das ist das Kulturerbe der Psychoanalyse. Wir können gar nicht anders, als bei der Wissenschaft vom Träumen sofort an Sigmund Freuds Theorie zu denken: Irgendwie haben Träume mit verdrängten Wünschen im Unbewussten zu tun, und irgendwie geht es immer um Sex.
Für weite Teile der modernen Traumforschung ist das allerdings Unsinn: Freud war in seinen Untersuchungen kaum wissenschaftlicher als antike Vogelschauer und Sterndeuter. Träume haben selten etwas mit verborgenen Wünschen zu tun. In unserem Geist gibt es keine Instanz, die dem «Unbewussten» auch nur entfernt ähnelt. Im Gegenteil: Wir
erleben
Träume, und das heißt, sie sind im Bewusstsein. Einzig unsere aktive Kontrolle ist stark eingeschränkt: Wir sind unseren Träumen so passiv ausgesetzt wie Gefühlen oder Sinneseindrücken im Wachzustand.
Der Freud-Mythos hält sich aus verschiedenen Gründen. Zum einen haben viele Menschen einen Hang, in allem eine tiefere oder symbolische Bedeutung zu sehen. Schon junge Gymnasiasten werden im Deutschunterricht darauf trainiert, unzählige verborgene Botschaften zwischen den Zeilen zu entdecken, nach dem Prinzip: Nichts ist einfach nur, was es ist, sondern alles ist immer auch etwas anderes.
Ein weiterer Grund für Freuds Erfolg ist die unklare Verwendung der Wörter «das Unbewusste» oder «unbewusst». Viele Menschen fasziniert die Vorstellung, dass wir nicht immer die Kontrolle über unsere Handlungen oder Gedanken haben, sondern von unbekannten Kräften getrieben werden. Die Suche nach dem Verborgenen im Geist ähnelt dem literarischen Symboldeuten und ist dabei genauso faszinierend. «Unbewusst» kann jedoch vielerlei heißen: schlummert unzugänglich in der Erinnerung; wird jenseits der Aufmerksamkeit verarbeitet; ist aktiv beiseitegeschoben; wurde passiv «verdrängt» und zeigt sich deshalb in verwandelter Weise. Freud ist vor allem vom passiven Verdrängen ausgegangen. Doch in seinen Schriften überlagern sich alle Bedeutungen von «unbewusst» zu einem schillernden Gesamtbild. Das gilt auch für die verschiedenen psychoanalytischen Schulen und das populäre Verständnis von Freud.
Heute weiß man mehr über die biologischen Grundlagen des Schlafens und Träumens, als Freud jemals wissen konnte. Diese Erkenntnisse erklären, warum die moderne Forschung ihn so weit hinter sich gelassen hat. Die drei großen Fragen der Traumforschung sind: Wie genau sehen die Inhalte von Träumen aus? Wie untersucht man Träume am besten? Welche biologische Funktion haben Träume? Die letzten beiden Fragen gehören zusammen, denn um sie zu beantworten, braucht man eine Traumtheorie. Je nach Theorie
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