Folge dem weißen Kaninchen
medizinische Auffassung: Träume können Symptome von Krankheiten sein und gehen daher in die Diagnose ein.
Die praktische griechische Medizin vereinte beide Ansätze. Kranke wurden in das
Asklepieion
eingewiesen, eine Art Sanatorium des Altertums mit angebundener Rehaklinik, benannt nach Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Dort deutete das medizinische Fachpersonal Träume und gab gegen Bezahlung entsprechende Gesundheitsanweisungen. Die Ablehnung göttlicher Eingebung war ein Schritt in Richtung wissenschaftlicher Traumforschung.
Die großen philosophischen Gegenspieler Platon und Aristoteles kann man ebenfalls beiden Traditionen zuordnen. Zumindest in den frühen Dialogen beschreibt Platon Träume noch als Botschaften von höheren Wesen. Erst in seinem Spätwerk wurde er physiologischer und sah Träume als Ausdruck von Sinnestäuschungen an. Sein Schüler Aristoteles vertrat von vornherein einen naturwissenschaftlichen Ansatz. Er hielt Träume nur für Nachwehen der Wahrnehmung, für ein Flimmern, erzeugt durch Veränderungen in der Blutbeschaffenheit.
Freuds Psyche
Platon hat noch auf andere Weise die Geschichte der Traumdeutung geprägt, nämlich durch die Vorstellung, unser Geist sei ein
Seelenwagen
, der von zwei Pferden gezogen wird, einem wilden instinkthaften und einem edlen mutigen. Da die Pferde in unterschiedliche Richtungen wollen, muss sie der geschickte Wagenlenker zügeln. Die Eindringlichkeit dieses Bildes lebt noch heute fort, unter anderem in Redewendungen wie «jemanden anspornen» oder «sich im Zaum halten».
Auch Freuds tiefer gelegtes Modell der
Psyche
stammt aus derselben Serie wie der Seelenwagen. Statt von einem Zwei- PS -Motor wird das
Ich
nun vom
Es
der Instinkte und dem
Über-Ich
der Normen angetrieben. Im Traum überlässt das Ich dem Es das Feld. Die geheimen Wünsche sind nicht mehr im Unbewussten verborgen, sondern dringen an die Oberfläche. Ein
Zensor
, der tagsüber alles im Griff hat, kann diese rohen Kräfte lediglich noch in Symbole umwandeln, damit sie den Schlafenden nicht stören. Nur der Psychoanalytiker schließlich kann die Bedeutung hinter den Symbolen entschlüsseln, da sie dem Träumer auch nach dem Aufwachen verborgen bleiben.
Freud erbt von Platon nicht nur den Bauplan, sondern auch einen Konstruktionsfehler. Denn wenn die Pferde Mut und Instinkt sind, wer ist dann der Kutscher? Mit dem Kutscher kann nicht ich als Person gemeint sein, denn mein Geist ist der Seelenwagen mit Pferden und Fahrer zusammen. Das Gleiche gilt für Freuds Modell. Ich kann nicht mein Ego sein, denn ich als Person bin durch Ich, Es und Über-Ich bestimmt. Wer ist dann mein Ich, wenn nicht ich mein Ich bin? Und wer ist der Zensor? So etwas wie ein Autopilot? Platon und Freud begehen den
Homunkulus-Fehlschluss
, nach Lateinisch «Homunkulus» für «kleiner Mensch»: Eigenschaften, die die ganze Person ausmachen, übernimmt nun eine virtuelle Figur innerhalb dieser Person. Aber nur die ganze Person kann das tun, was man ihren Teilen zumutet, nämlich lenken, zensieren, verdrängen und umwandeln.
Den Homunkulus-Fehlschluss vermeidet, wer das Modell nicht allzu wörtlich nimmt. Freud wollte seinen Ansatz jedoch buchstäblich verstanden wissen, als kausale Theorie, die experimentell überprüfbar ist. Er war sich auch sicher, dass alle Elemente der Psyche eine biochemische Grundlage haben, auch wenn die zu seiner Zeit noch nicht untersucht war. Freud nahm zunächst an, dass Träume Wunscherfüllungen sind. Später sah er die Funktion des Traumes darin, der «Wächter des Schlafes» zu sein: Normalerweise hält der Zensor die wilden Wünsche im Zaum oder verdeckt sie wenigstens. Nur im Albtraum brechen sie ungezügelt hervor.
Die moderne Traumforschung lässt kein gutes Haar an Freud. Der amerikanische Traumforscher Robert Stickgold meinte einmal: Freud lag zu 50 Prozent richtig und zu 100 Prozent daneben. Besonders sein Kollege Hobson, selbst ausgebildeter Psychoanalytiker, ist ein Spezialist im
Freud-Bashing
, also im verbalen Einprügeln auf den Wiener Nervenarzt. Hobson zufolge hat sich Freud als Hohepriester einer obskuren Traumdeutung aufgespielt und damit lange Zeit verhindert, dass das Träumen streng wissenschaftlich erforscht wurde. Das ist in der Sache sicherlich korrekt, doch im Tonfall befremdlich. Vermutlich erklärt die Allgegenwart der Psychoanalyse in den USA Hobsons Wortwahl. Der psychoanalytische Ansatz ist dort, fast möchte man sagen, tief ins Unbewusste der
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