Folge dem weißen Kaninchen
Menschen gesickert, vor allem aber in deren Lebensführung, sodass viele meinen: Wer nicht wöchentlich beim Analytiker auf der Couch liegt, mit dem stimmt etwas nicht.
Doch was hat Freud eigentlich falsch gemacht? Zuallererst war er methodisch nachlässig. In seinem Hauptwerk
Die Traumdeutung
aus dem Jahr 1900 beschrieb er nur etwa 40 eigene Träume, ohne sich die Mühe zu machen, breitangelegte repräsentative Testgruppen zu bilden. Freud zitierte seine Fachkollegen zwar, schenkte ihren Argumenten aber überraschend wenig Beachtung. Der Psychologe Wilhelm Wundt sah bereits vor Freud, dass Träume Assoziationen, also zufällige Gedächtnisverbindungen, enthalten. Sein Kollege, der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz, nahm schon damals an, dass Bewegungsillusionen typisch für Träume sind. Selbst Freuds Freund und Gegenspieler Carl Gustav Jung hat die Parallele zwischen Träumen und Psychosen gesehen.
Zudem war Freud während seiner Privatstudien ein leidenschaftlicher Kokainist, der einen ähnlichen Nasenhunger verspürte wie Diego Maradona in seinen dunklen Zeiten. In der Abhandlung «Über Coca» preist Freud die Wirkung des weißen Pulvers, die «plötzliche Aufheiterung» und das «Gefühl von Leichtigkeit». Allerdings verändern Drogen nicht nur den Wachzustand, sondern auch Träume. Einige Wissenschaftler vermuten, dass Freuds Eindrücke so viel lebhafter und bunter waren als die unberauschter Menschen.
Der Ansatz wirft ein noch schwerwiegenderes Problem auf, nämlich die Interpretation der Symbole. Freud zufolge haben Ereignisse und Gegenstände in Träumen eine tiefere Bedeutung. Mit dieser Auffassung steht er nicht alleine da. Unzählige Bücher über
Traumsymbole
wollen die verborgenen Botschaften unserer Träume ans Licht bringen: Ein blasses Pferd symbolisiere den Tod, Wölfe seien Vorboten von Gefahren, ein aufgewühltes Meer deute auf Leidenschaft und die ruhige See auf Zufriedenheit hin. Auf den ersten Blick sind diese «Interpretationen» gar nicht so abwegig. Immerhin verwenden wir auch sprachliche Metaphern und Redewendungen dieser Art. Wir können emotional «aufgewühlt» sein und den «Wolf im Schafspelz» fürchten. Symbole kennen wir außerdem aus Geschichten. In Romanen spiegelt die Natur oft das Seelenleben der Hauptfiguren wider. Im Hollywoodkino ist diese Natursymbolik oft überdeutlich: Beerdigungen finden grundsätzlich unter düsteren Herbstwolken statt, die sich dann in einen Sturzregen entladen. Könnte da ein Gewitter im Traum nicht ebenfalls Unheil ankündigen?
Doch so überzeugend und eindringlich Symbole in der Literatur und im Film auch sein mögen, nichts spricht dafür, dass es sie auch im Traum gibt. Freud glaubte zwar nicht an allgemeingültige Motive und Vorboten wie Wölfe oder Pferde. Doch auch er nahm an, dass hinter Objekten verdrängte Informationen verborgen seien. So kann in der Psychoanalyse jede Bettfalte und jede Höhle eine Vagina sein, jeder Stift und jeder Turm ein Phallus. In meinem eigenen James-Bond-Traum wäre die Pistole also ein guter phallischer Kandidat ebenso wie mein schlaffer Oberarm. Freud gibt aber keine Begründung, warum das so sein soll. Ein Beispiel: Treppensteigen deutet laut Psychoanalyse unmissverständlich auf den Geschlechtsakt hin. Der Rhythmus der Beinbewegung symbolisiere den Rhythmus beim Verkehr. Man kann die Parallele einleuchtend finden. Doch auch Atmen und Essen haben etwas mit Rhythmus zu tun. Warum soll Treppensteigen nicht diese Tätigkeiten symbolisieren?
Dazu kommt, dass Freuds Ansatz nicht
falsifizierbar
ist. Man kann also nicht zeigen, dass er falsch ist. Der österreichisch-britische Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hält das der Psychoanalyse vor. Zunächst könnte man meinen, dass einer Theorie nichts Besseres passieren kann, als immer wahr zu sein. Tatsächlich ist fehlende Widerlegbarkeit jedoch fatal, denn Aussagen, die niemals falsch sein können, sind vollkommen gehaltlos. Freud nennt kein Kriterium dafür, wann ein Schnürstiefel einfach nur ein Schnürstiefel ist und nicht etwa ein Phallus. Man weiß auch nicht, wie man
unabhängig
vom Interpreten überprüfen kann, ob er recht hat.
Der deutsch-amerikanische Philosoph Adolf Grünbaum brachte das so auf den Punkt: Nur weil die Interpretation als bedeutungsvolle Geschichte erzählt wird, heißt das nicht, dass auch der Traum bedeutungsvoll ist. Man kann das noch zuspitzen: Nur weil Texte über Träume aus sprachlichen Zeichen bestehen,
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