Folge dem weißen Kaninchen
Dreams
.
In der Architektur bezeichnet ein «spandrel», also eine «Spandrille» oder ein «Zwickel», die Fläche zwischen einem Gewölbebogen und einem umschließenden Rechteck. In alten Prunkbauwerken sind diese Bogenzwickel oft verziert oder bemalt, etwa in maurischen Moscheen, im indischen Taj Mahal oder in der europäischen Renaissance-Architektur. Doch die Ornamente sind bloßer Zierrat. Sie dienen keinem weiteren Zweck. Brücke und Bogen, Tor und Tempel halten auch ohne Dekor im Zwischenraum. Laut Flanagan sind Träume die Spandrillen des Schlafes: Verzierungen des Bewusstseins ohne tragende Funktion.
Mit seiner Spandrillentheorie übernimmt Flanagan eine Idee des amerikanischen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould und eines Kollegen, die sich gegen den sogenannten
Panadaptionismus
wenden, die Vorstellung, dass jede aktuelle biologische Eigenschaft eine evolutionäre Funktion gehabt haben muss. Der berühmteste literarische Vertreter dieser These ist Dr. Pangloss aus Voltaires Satire
Candide oder der Optimismus
. Dr. Pangloss will seinem Weggefährten Candide weismachen, Gott habe uns die Nase gegeben, damit wir darauf eine Brille tragen können.
Gould und sein Kollege vertreten die These, dass es in der Entwicklungsgeschichte auch Zufallserscheinungen und Nebenprodukte gab. Der männliche Tyrannosaurus Rex mag sein Weibchen mit seinen kurzen Stummelärmchen geherzt haben, aber dieses Schmuseverhalten erklärt nicht, warum die Vorderläufe des Dinosauriers so kurz geraten waren. Auch der Laut unseres Herzschlags hat keine Funktion. Wie jede Pumpe erzeugt das Herz ein Geräusch, aber das Geräusch selbst dient keinem evolutionären Zweck.
Flanagan behauptet nun, dass dasselbe auch für Träume gelte. Sie seien im Gegensatz zum Schlafen nicht überlebensdienlich. Zahlreiche tollkühne Selbstversuche haben die schlimmen Folgen von Schlafentzug gezeigt: Erschöpfung, Delirium, psychotische Zustände. Bei der
letalen familiären Insomnie
beispielsweise, einer seltenen Form vererbter Schlaflosigkeit, sterben die Betroffenen oft schon wenige Monate nach Ausbruch der Krankheit. Schlafen hat also eine klare positive Funktion. Träume jedoch, so Flanagan, behüten nicht den Schlaf, machen uns nicht gesünder und fördern auch nicht die psychische Hygiene. Für diese These spricht unter anderem, dass eine Unterdrückung des REM -Schlafs keine Auswirkungen auf das Leben von Testpersonen hatte. Im Gegenteil: Viele Psychopharmaka sind wirksam, während sie als Nebeneffekt die REM -Phase verkürzen. Außerdem träumen wir genauso oft von Dingen, die vollkommen irrelevant sind, wie von denen, die uns im Leben beschäftigen. Umgekehrt taucht vieles, was uns an Herz und Nieren geht, niemals in Träumen auf. Dabei sind Menschen, die sich an ihre Träume erinnern, genauso gesund wie die, die es nicht tun. Wenn Träume wirklich eine Funktion für unser Seelenleben hätten, warum sind sie dann so schwer zugänglich, warum so beliebig, und warum hinterlassen sie so wenige Spuren in der Erinnerung?
Flanagan verneint zwar eine Funktion, behauptet aber dennoch, dass wir durch Träume etwas über uns erfahren können. Das klingt zunächst paradox. Ein Vergleich mit dem Herzschlag zeigt, dass beide Annahmen nicht widersprüchlich sein müssen. Obwohl das Herz nicht die Funktion hat, Geräusche zu erzeugen, verrät der Herzschlag dem Arzt mit Stethoskop etwas über die Gesundheit des Patienten. Und obwohl Träume lediglich ornamentales Flimmern sind, haben sie Flanagan zufolge für uns eine Bedeutung und machen sogar einen Teil unserer «Identität» aus.
Ob das für alle Menschen gilt, ist eher zweifelhaft, denn wer sich nicht an seine Träume erinnert, dessen Identität bleibt von ihnen unbeeinflusst. Auch hier ist mein James-Bond-Traum ein gutes Gegenbeispiel. Mir sind viele Dinge wichtiger, als mich mit Geheimagenten zu duellieren. Natürlich könnte das Thema «Kämpfen» meinen Charakter und somit meine «Identität» ausmachen, aber Gewaltszenen kommen ohnehin besonders häufig in den Träumen der Menschen vor. Ob Trauminhalte für unsere Lebensführung relevant sind, ist blanker Zufall: Manchmal träumen wir von dem, was uns bewegt, manchmal nicht. Natürlich denken wir eher über diejenigen Inhalte intensiv nach, die uns wichtig erscheinen. Aber einen systematischen Zusammenhang gibt es nicht. Sinnvoller ist daher, Flanagans Idee in eine andere Richtung zu verfolgen: Träume verraten uns etwas über die Architektur
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