Folge dem weißen Kaninchen
bekommt man im Wachzustand einen ständigen Input über die Sinnesorgane. Unser Leben ist ein Traum. Und es wäre viel wahnsinniger, würden uns die kontinuierlichen Sinnesreize nicht buchstäblich erden.
Der Vergleich von Traum und Wachen bildet eine raffinierte und produktive Forschungsidee. Dennoch scheint die Llinás-Gruppe zwei wichtige Unterschiede zwischen Träumen und Wachzuständen zu unterschlagen, nämlich Handlungskontrolle und Nachdenken. Im wachen Leben können wir selbst entscheiden, was wir überlegen oder uns vorstellen wollen. Außerdem haben wir die Fähigkeit, Abstand zu uns selbst zu nehmen, indem wir über uns und unsere Eindrücke und Gefühle nachdenken. Zugegeben, was wir sehen, hören und spüren, prasselt passiv auf uns ein. Wir können uns beispielsweise nicht dazu entscheiden, die Farbe Rot als Gelb zu sehen oder ein Reifenquietschen als Donnergrollen zu vernehmen. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit umlenken, in Gedanken versinken oder die Augen schließen. Unser waches Leben ist durch diese Handlungen bestimmt. Einige davon sind körperlich, andere führen wir im Geiste durch. Im Traum haben wir zwar auch manchmal das Gefühl zu handeln, aber außer in Klarträumen ist das kaum jemals überlegt, geplant und kontrolliert, geschweige denn ein Ergebnis von gründlichem Nachdenken.
Daher ist es spannend, den Ansatz der Llinás-Gruppe vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen. Statt nur das Gemeinsame zwischen Träumen und Wachen zu suchen, könnte man sich auch auf den Unterschied konzentrieren. Denn unser aktives
Kontrollbewusstsein
, also die Fähigkeit, frei über die Inhalte unserer Erlebnisse und Gedanken zu verfügen, findet sich genau dort.
Träume als Filme
Bleibt noch das letzte große Rätsel des Träumens: Warum erleben wir Träume als Geschichten, als Kurzfilme mit Storyline und Dialogen, in denen wir die Hauptrolle spielen? Hier ist noch einmal das Beispiel aus meinem eigenen Traumtagebuch: Ich stehe im Schatten eines Betonrohbaus in einem verlassenen Industriegebiet. Von gegenüber nähert sich James Bond meinem Versteck mit gezogener Waffe. Er trägt eine schwarze kugelsichere Weste über seinem kurzärmeligen T-Shirt. Ich bin mir sicher, dass er mich nicht sehen kann. Doch plötzlich feuert er zwei Schüsse ab, die mich in die Brust und in den rechten Arm treffen. Ich sehe an mir hinab und entdecke, dass auch ich eine kugelsichere Weste trage. Von den Kugeln spüre ich nichts, aber mein Arm fühlt sich schlagartig taub an und hängt bewegungslos am Körper herab.
Natürlich kann man behaupten, dass hier unterdrückte Wünsche am Werk waren. Aber selbst wenn das stimmte, würde es nicht erklären, wie Bilder und Motive überhaupt in meine Traumvignette gelangten. Tatsächlich stammten sie nicht aus dem ominösen Unbewussten, sondern aus ganz unterschiedlichen Körperregionen: Als ich erwachte, spürte ich, dass mein Arm eingeschlafen war. Dann hörte ich zwei weitere Schüsse, blecherner allerdings als im Traum. Sie kamen von großen Metalltonnen, die die Müllabfuhr auf der Straße zuknallte. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass ich am Abend zuvor einen James-Bond-Film gesehen hatte und über das alte Hollywoodklischee nachdenken musste, dass der Held nie eine kugelsichere Weste trägt, nicht einmal, wenn er zusammen mit einer vollvermummten Spezialeinheit ein Gebäude stürmt. Doch wieso befand ich mich in einem Industriegebiet und nicht an einem Pokertisch im Casino Royal?
Und da dämmerte es mir erneut. Auf einmal wusste ich, woher ich die Szenerie kannte: Vor vielen Jahren habe ich bei einem Freund in London
Paintball
gespielt, außerhalb der Stadt in zwei Bauruinen aus Beton. Bei Paintball schießt man mit Farbpatronen auf seine Gegner. Unser Team verlor hoffnungslos gegen die ganz in Schwarz gekleideten Gegner. Nie zuvor habe ich so einen Adrenalinrausch erlebt. Als ich mich im Halbdunkel an das Lager des Gegners anschlich, war die Angst, aus einem Hinterhalt getroffen zu werden, derart real, dass ich meinen eigenen Puls im Ohr hören konnte. Auf Fotos von damals entdeckte ich, dass mich einer der Gegenspieler an eine Figur aus dem James-Bond-Film erinnerte. Damit war das letzte Puzzlestück gefunden: Die Schüsse stammten von den Mülltonnen, der verwundete Arm aus meiner Körperwahrnehmung, der Angstgegner aus dem Kino und die Kulisse aus meiner Erinnerung.
Mein Traum ist nicht ganz typisch, denn die meisten Träume laufen vollständig offline ab, also
Weitere Kostenlose Bücher