Folge dem weißen Kaninchen
die Ideen «schauen», die unaussprechlich sind. Im Christentum ist das Thema der Unsagbarkeit allgegenwärtig. Im Korintherbrief heißt es: «Wir sehen die Welt jetzt durch einen Spiegel, doch dann von Angesicht zu Angesicht.» Auch Heidegger behauptet, über das «Sein» könne man nicht sprechen, es müsse sich uns «zeigen». Selbst der chinesische Gelehrte Laotse schreibt, das ewige
Tao-de-King
sei nicht «sagbar», man müsse dessen «Geheimnisse» erblicken.
Auch Morpheus sagt zu Neo: «Die Matrix kann man niemandem beschreiben. Du musst es selbst sehen.» Doch wenn das wirklich stimmte, dann hätte auch niemand das Drehbuch verfassen können, denn darin steht, was die Matrix ist und wie die wirkliche Welt aussieht. Oft steckt nicht viel hinter der Rede von «unausdrückbaren Wahrheiten».
«Wirkliche Welt» ist übrigens das Stichwort: Jede Scheinwelt setzt eine Wirklichkeit voraus, in der sie produziert wird. Neos Welt aus dem Jahr 1999 gibt es nicht. Er liegt verkabelt in einem Ernährungstank – doch den gibt es dann wirklich. Man kann Putnams Gedankenexperiment also auch umdrehen. Mit all meinen Erlebnissen und Gedanken sind mindestens zwei Welten vereinbar: In einer lebe ich wirklich in Berlin. In einer anderen bin ich an eine Computersimulation angeschlossen und bilde mir nur ein, dass ich in Berlin lebe. Was ist plausibler? Solange mir kein Typ mit Sonnenbrille und langem Ledermantel am Kottbusser Tor eine rote Pille anbietet, ist die einfachste Erklärung die beste: Ich lebe in Berlin.
Das Wissen der Wissenschaft
Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass wir uns in allem täuschen: Könnte es nicht sein, dass zumindest gerade das falsch ist, was uns besonders verlässlich erscheint? Diese Frage stellt der
Skeptizist
, der die natürliche menschliche Skepsis ins Extreme steigert. Der literarische Prototyp dieser Spezies ist Goethes
Faust
, der sagt: «Da steh ich nun, ich armer Tor! und bin so klug als wie zuvor … Und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen.»
Ein Argument geht ungefähr so: Früher dachten die gebildetsten und intelligentesten Menschen, die Erde sei der Mittelpunkt des Sonnensystems. Heute glaubt das kaum noch jemand. Könnte es nicht morgen mit denjenigen Überzeugungen genauso gehen, die wir heute für ganz gesichert halten, zum Beispiel dass ein Regenbogen durch die Brechung des Sonnenlichts verursacht wird? Auch diese Analogie besteht nur scheinbar. Denn erstens ist die These von früher eine bloße Behauptung, während die heutigen Thesen wissenschaftlicher Messung entspringen. Und zweitens kann zwar eine gut begründete Behauptung falsch sein, aber wir können heute besser einschätzen, was als Begründung zählt und was Spekulation ist, weil wir wissenschaftliche Standards haben.
Den echten Skeptizisten kann man trotzdem schwer widerlegen. Hätte Faust einen Grundkurs in Erkenntnistheorie besucht, hätte er vielleicht eines der folgenden Argumente erwogen.
Erstens würden wir uns im Alltag niemals so gut zurechtfinden, wenn all unsere Überzeugungen falsch wären. Wir würden ständig gegen Bäume laufen und bald verhungern oder verdursten.
Zweitens bestätigen Vorhersagen unsere naturwissenschaftlichen Erkenntnisse: Während die antiken Astronomen immerhin schon Sonnenfinsternisse bestimmten, können heutige Wissenschaftler Vorhersagen mit unvorstellbarer Genauigkeit treffen: vom ganz kleinen Bereich der Elementarteilchen bis hin zu den Bewegungen der Galaxien. Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Technik. Nur weil Wissenschaftler unter anderem die Gravitation verstanden haben, konnten Menschen zum Mond fliegen – und heil zurückkommen. Und nur weil sie den Elektromagnetismus verstanden haben, können wir abends das Licht anknipsen und mit unseren Computern online gehen. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn das bloßer Zufall wäre.
Und drittens führen oft viele Wege zum selben Ergebnis. Ein einschlägiges Beispiel stammt von dem französischen Physiknobelpreisträger Jean Perrin. Er hat gezeigt, dass man die Avogadro-Zahl über mehrere unabhängige Wege bestimmen kann, also die Anzahl der Moleküle, die in einer Einheit eines Gases enthalten sind.
Wissenschaft findet nicht neben unserem Leben irgendwo im Neonlicht der Labore statt, sondern Wissenschaft ist die methodische Anwendung von dem, was jeden Menschen auszeichnet: die Vernunft. Wir alle haben schon einmal nach der Ursache gesucht, warum es plötzlich
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