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Fool on the Hill

Fool on the Hill

Titel: Fool on the Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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immer in der Menschenmenge nach ihr Ausschau haltend, griff er nach dem Silberpfeifchen, das sie ihm gegeben hatte.
    Es war nicht mehr da.
     
    Kalliopes Abgang
     
    Sie ging nicht einmal mehr nach Haus, um ihre Sachen zu holen Ihr Matchsack lag schon gepackt und reisefertig am Sockel von Cornells Standbild. Der Wind heulte, als sie sich die Tasche umhängte, krümmte ihr aber kein einziges Haar.
    »Armer George«, flüsterte sie, während sie den Quad überquerte. »Armer George.«
    Mittlerweile hatte er ihr Verschwinden bemerkt; nun würde der Schmerz einsetzen. Der Gedanke daran erfüllte sie wie immer mit einem gewissen Bedauern, aber schließlich war das Verursachen des Schmerzes ein wesentlicher Teil ihrer Aufgabe. Hinter ihr lag eine lange (aber nicht unendliche) Reihe gebrochener Herzen, eine ähnliche (wahrscheinlich ebensowenig unendliche) Reihe erwartete sie: Das war der Weg, auf dem sie schritt, und ihr Name war Dame Kalliope.
    Eine letzte Sache war noch zu erledigen, ehe auch diese Stadt zur bloßen Erinnerung wurde. Unter einem sich verfinsternden Himmel ging sie rasch auf der Fraternity Row über den North Campus und erreichte im Nu das festungsartige Tolkien-Haus. Sie wünschte nicht, gesehen zu werden, und wurde es auch nicht; kein einziger Verbindungsbruder befand sich in der Nähe des Haupteingangs, als die Torflügel aufschwangen und die Dame hineinrauschte.
    Sie betrat das Michel-Delving-Mathom-Haus, den großen Saal, in dem die Verbindungsschätze aufbewahrt wurden. Säuberliche Reihen von Schaukästen, die jeweils eine Waffe oder einen anderen Gegenstand aus Tolkiens Trilogie der ›Ringe‹ enthielten. Mit einer Ausnahme. Der Fremdkörper lag exakt im Mittelpunkt des Saales; sein Schaukasten war aus einem Guß und trug keinerlei Beschriftung. Es war eine Lanzenspitze, knapp fünfundzwanzig Zentimeter lang und fünfzehn breit, mit einer quadratischen Tülle für den Schaft. Sie hatte eine lange und phantastische Geschichte, die indes weder von Tolkien noch sonst einem Geschichtenerzähler je festgehalten worden war; sie lag bereits seit einem halben Jahrhundert hier, umgeben von einem Haus, das selbst einem mythischen Traumreich entstammte. Auf der breiten Klinge war ein rotes Kreuz eingeätzt, und darunter die Worte:
    FRACTOR DRACONIS.
    Eine bloße Berührung genügte, und der Glaskasten sprang auf. Sie ergriff die Lanzenspitze, ohne sich besonders vorzusehen’ die Schneide war rasiermesserscharf, doch wenn Kalliope nicht wollte, konnte sie der Stahl nicht verletzen. Sie ließ die Spitze zwischen die Falten ihres Umhangs gleiten und verließ die
    Halle.
    Sie folgte einem Gang, betrat den Obsidianfahrstuhl und fuhr in die Kellergewölbe hinab. Ohne eine Lampe anzuzünden, hielt sie zielsicher auf Lothlorien zu. Als sie den Abgrund erreichte, leistete sie sich eine Frivolität: Sie blies in ihr Pfeifchen, ließ die steinerne Brücke links liegen und wandelte durch die Luft.
    Auf der anderen Seite angelangt, durchschritt sie das Steintor und betrat den verlassenen Garten. Über ihr funkelte ein juwelenbesetzter Nachthimmel, doch sie begab sich in den Teil des Waldes, in dem die Bäume besonders dicht standen und der Himmel nicht mehr zu sehen war. Hier blieb sie kurz stehen, um die Gummimaid zu betrachten, die unter den Ästen einer dunklen Eiche darauf wartete, daß ihre Zeit kam.
    »Bald«, sagte Kalliope zur Puppe. »Bald.«
    Und sie ging weiter, dichter und dichter standen die Bäume, bis sich plötzlich die Wirklichkeit krümmte. Der Wald lichtete sich wieder, löste sich nahezu auf, und sie war mit einem Mal nicht mehr in Lothlorien, sondern draußen, auf halber Höhe des Hügels, auf dem Knochenacker. Nur ein paar Meter weiter lag flach auf der Erde eine schlichte, weiße, quadratische Marmorplatte, auf der ein einziges Wort eingemeißelt war:
     
    PANDORA
     
    Als sie eine andere, passende Eiche gefunden hatte, holte sie fractor draconis hervor und schleuderte ihn aus dem Handgelenk in den Baum. Seine Klinge bohrte sich bis auf wenige Zentimeter vollständig in das Holz. Da würde er bleiben, bis zu seiner Befreiung am Vorabend der Iden des März.
    Der Wind hatte sich fast gelegt. Jetzt fielen Schneeflocken aus einem bleigrauen Himmel herab, doch Kalliope achtete nicht darauf. Sie zögerte einen Augenblick, schaute zum Gipfel des Hügels hinauf, dachte ein letztesmal an den Narren, dessen Prüfung noch nicht einmal begonnen hatte.
    »Viel Glück, George«, sagte sie und verließ die

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