Fool on the Hill
aufgeschlitzte Matratze genug Schwierigkeiten mit dem Einschlafen haben würde.
Als ihm die Menge der Trümmer zuviel wurde, ging er wieder hinaus. Er zog keinen Mantel an, obwohl der Schnee bereits zwei Zentimeter hoch lag und es ununterbrochen weiterschneite. Bis über beide Ohren in Selbstmitleid versunken, felsenfest davon überzeugt, daß er diesen Schicksalsschlag niemals verwinden würde, stieg er den Hügel hinab, hinunter zum Ithaca Commons.
Indes blieb Georges Verzweiflung nicht allzulange ungetrübt. Selbst in der Hölle kommen gesunder Menschenverstand und Optimismus bisweilen zu Wort. Als er den Commons betrat, sah er, daß das Außenthermometer auf vier Grad minus stand, und prompt schaltete sich ein kleines noch funktionsfähiges Segment seines benebelten Gehirns ein. Nicht sehr gescheit, bei diesem Wetter in Hemdsärmeln rumzulaufen, gab es zu bedenken. Selbstkasteiung in Ehren, aber wirklich sterben möchtest du doch nicht, oder? Der Rest seines Gehirns ignorierte die Frage zwar, aber er war keine zehn Meter weitergegangen, als ihn ein Anfall von Schüttelfrost - aha: doch noch nicht ganz über körperliche Beschwerden erhaben! - fast zu Boden geworfen hätte.
Ein Armer, der gerade mit wehmütigem Blick in ein Schaufenster gestarrt hatte, bemerkte Georges Not und eilte ihm zu Hilfe. Er trug drei Mäntel übereinander (alle nur bessere Lumpen), und den äußersten davon bot er George an. Des Geschichtenerzählers erster Impuls war wegzulaufen (dieser Akt von Mildtätigkeit verletzte sein Gefühl völliger Verlassenheit), aber er zitterte so heftig, daß er sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn laufen konnte. Ehe er überhaupt wußte, wie ihm geschah, hatte der Arme ihm den Mantel um die Schultern geworfen. »So«, sagte er, »das hätten wir. Frohe Weihnachten im voraus, okay?«
Der Mantel stank, aber er wärmte, und als George diese Wärme spürte, machten sich seine Hände selbständig. Er griff in die Hosentasche, holte alles raus, was er an Geld dabei hatte - es waren mehr als dreihundert Dollar -, und gab es dem Armen. Auch seine Lippen fielen ihm in den Rücken. »Frohe Weihnachten im voraus«, sagten sie.
Zu Georges großem Verdruß erhellte sich das Gesicht des Armen, als sei die Sonne durch die Wolken gebrochen.
»Jesus Maria«, sagte er und zählte die Banknoten. »Jesus Maria, bist du sicher?«
»Ganz sicher«, murmelte George. Da er merkte, daß er wieder gehen konnte, setzte er sich in Bewegung.
»He!« rief ihm der Arme nach. »He, kann ich dir wenigstens ein Bier ausgeben oder sonstwas?«
»Nein danke!« rief George gehetzt zurück und beeilte sich fortzukommen.
»Na dann, mach’s gut. Weiß wirklich nicht, wie ich dir danken kann... Nochmals frohe Weihnachten!«
Das letzte, was George noch von ihm hörte, war: »Heilige Kacke, Oral Roberts hatte wirklich recht!« Dann bog er um die Ecke und war erlöst. Doch die Großzügigkeit des Armen hatte ihre schädliche Wirkung bereits getan: Sosehr er sich auch bemühte, George schaffte es einfach nicht, sich noch einmal in den vormaligen Zustand nackter Verzweiflung zu versetzen. Statt dessen blieb er vor einem Schaufenster stehen und ließ sich von seinem Spiegelbild ausschelten.
»Du Esel«, sagte das Bild. »Kommst du dir eigentlich toll vor oder was, hier im Schnee? Geh nach Haus und mach dir einen Tee. Schlag noch ein bißchen mehr kaputt, wenn du unbedingt mußt. Aber hör auf mit der Scheiße; tiefgefroren würdest du eine noch lächerlichere Figur abgeben als Romeo selig.«
Jetzt, da sein Selbsterhaltungstrieb wieder funktionierte, konnte George nicht umhin, diesem Ratschlag Gehör zu schenken. Er war zwar weiterhin so niedergeschlagen wie noch nie zuvor in seinem Leben, aber er begann in einem widerwilligen Aufwallen von Optimismus bereits zu ahnen, daß er, na ja, vielleicht doch darüber wegkommen würde.
Fest in den schäbigen, stinkigen Mantel eingemummelt, machte er sich auf den Heimweg. Den Hügel wieder hinauf.
Über den Knochenacker.
II
Er wählte diesen Weg, um sich noch einmal den Stein anzusehen, den von Hand behauenen Stein zum Andenken an ein Kind, das an ein und demselben Tag auf die Welt gekommen war und sie wieder verlassen hatte.
HIER RUHT ALMA RENAT JESSOP
GEBOREN AM 23. APRIL 1887
GESTORBEN AM 23. APRIL 1887
IHR VATER HAT SIE GELIEBT
Was in ihn gefahren war, sich im knöcheltiefen Schnee hinzustellen und diesen Felsbrocken anzustarren, wußte er selbst nicht; anfangs
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