Fool on the Hill
durchschnittlich einmal im Monat verhaftet worden. Er hatte oft nach Hause geschrieben und dabei von seinen Heldentaten berichtet und Zeitungsausschnitte mitgeschickt, und in den Abendnachrichten war sein Gesicht einmal für einen Augenblick in einer Menschenmenge zu sehen gewesen. Kurz vor dem Ende war Walter sogar der Verdacht gekommen, Jesse habe da drüben einen festen Freund. Trotz Mangel an Beweisen hatte Walter bei dem Gedanken einen Anflug von Stolz verspürt: Es wäre schon herrlich unkonventionell gewesen, auch wenn Prudence vermutlich ganz anders darüber geurteilt hätte...
Vier Tage vor seinem Abschluß war Jesse direkt außerhalb des Unigeländes von einem Auto angefahren worden und gestorben. Der Fahrer war nicht betrunken gewesen; er hatte lediglich im falschen Augenblick in die falsche Richtung geschaut, und das empfand Walter als die größte Grausamkeit: daß es keinen Schuldigen geben sollte, niemanden, dem man die Faust unter die Nase halten konnte, niemanden außer vielleicht dem Schicksal. Er hatte Jesse lange beweint - lange und in einer Weise, wie er um Ed zugegebenermaßen niemals hätte weinen können. Und wenn ihm etwas schließlich aus seiner Verzweiflung herausgeholfen hatte, so war es etwas gewesen, was die damals knapp fünfjährige Aurora für ihn getan hatte.
Sie hatte einen Blumenstrauß für ihn gestohlen. Nicht einfach nur gepflückt, sondern regelrecht gestohlen; sie war unter Zäunen durchgekrochen, hatte sich überall in der Stadt klammheimlich in anderer Leute Gärten geschlichen - und in einem Fall (ihrem Bericht zufolge) mit einem sehr großen Dobermann Verstecken gespielt -, um mit einem bunten Sortiment an Blumen zurückzukehren: Rosen, Ringelblumen, Tulpen, Osterglocken, Päonien und andere mehr, von denen er nicht einmal wußte, wie sie hießen. Sie hatte ihm den Strauß gegeben und genau erzählt, wie sie dazu gekommen war, und sie hatte ihm gesagt, er könne jetzt aufhören, so traurig zu sein, es würde schon alles gut werden. Er besaß die Blumen noch heute, jede für sich zwischen den Seiten einer gebundenen Ausgabe der ›Abenteuer des Tom Sawyer‹ gepreßt, die in der untersten Schublade der Kommode lag. Und er hegte noch diesen Funken Hoffnung für sie, der damals plötzlich in ihm aufgekeimt war, als er in ihren Augen Jesses Blick entdeckt hatte - schlummernd zwar, aber unleugbar vorhanden und nur darauf wartend, zum Leben erweckt zu werden.
Wäre nur Brian Garroway nicht gewesen.
»... und da hat Brian gesagt...«
Brian war Auroras fester Freund, und das schon seit der High-School. Um ehrlich, ja schonungslos offen zu sein, war er praktisch ihr Verlobter. Das einzige, was noch fehlte, war die Anschaffung eines Rings und die Festlegung eines Datums - reine Formalitäten, die man wahrscheinlich über Thanksgiving, spätestens aber zu Weihnachten erledigen würde. Und dann... dann würde es zu spät sein.
»... und Brian...«
Walter war sich völlig im klaren darüber, daß die meisten Eltern Brian als ideales Schwiegersohnmaterial betrachtet hätten. Er war ein anständiger, geradliniger Bursche, der sein Studium demnächst mit dem Hotelkaufmannsdiplom einer der besten Universitäten des Landes abschließen würde. Er war außerdem ein überzeugter Christ, unerschütterlich in seinem Glauben und ein erklärter Gegner von Drogen, Alkohol, Zigaretten und Pornographie. Und Weltbewegereien. Für Walt wäre der Anblick von Brian, der bei einer Demo mitmarschierte, ein sicheres Anzeichen für die bevorstehende Erscheinung der Apokalyptischen Reiter gewesen. Alles in allem ein netter Junge - jemand, der niemals über die Stränge schlagen würde, der heiraten, seinen Platz als nützliches Mitglied der Gesellschaft einnehmen, nette, durchschnittliche Kinder großziehen und sein Leben lang nichts Erwähnenswertes zustande bringen würde. »... und wir...«
Wir. Das war noch so eine Sache: Brian schien in die erste Person Plural verliebt zu sein. Wir dies und wir das. Wenn man ihn ließe, würde er einem das Reden (und auch das Denken) vollständig abnehmen. Das war Walts größte Angst, daß Brian alles, was von diesem kleinen Mädchen, das damals den Blumenstrauß für ihn gestohlen hatte, noch übrig sein mochte, (in der allerbesten Absicht natürlich) restlos einebnen könnte.
High (oder besser down), wie er war, nahmen seine Überlegungen weit paranoidere und hoffnungslosere Züge an als gewöhnlich, und als Aurora ihm arglos lächelnd einen dampfenden
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