Fool on the Hill
Anlage schon seit seiner Geburt wie ein latentes Nierenleiden in ihm geschlummert, doch war sie erst ziemlich spät zum Vorschein gekommen. Walter würde nie jenen Tag des Jahres 1955 vergessen, da er, vom rücksichtslosen Dick Stark (Ex-Ledernacken, neuer Verkaufsleiter der Great-Midwest-Farbenfabrik und würdiger Nachfolger von Attila dem Hunnen) an die Grenze seiner Belastbarkeit getrieben, zum erstenmal ins Kaninchenloch des Nonkonformismus gestürzt war. Walters Ur-Abschweifung war überaus unauffällig gewesen; sie bestand lediglich darin, die Zahlen in Starks Verzeichnis der wöchentlichen Auslieferungen ein wenig durcheinanderzubringen. Es war reiner Zufall, daß Walt sich an jenem Tage in Starks nicht abgeschlossenes und unbewachtes Büro verirrte und das riesige hellgrüne Hauptbuch sah, in dem alle Bestellungen notiert wurden; den eigentlichen Sabotageakt beging er, praktisch ohne zu denken - doch die Folgen hätten selbst kühnste Erwartungen übertroffen: Im Lauf der nächsten zwei Wochen wurde ein renovierungsbedürftiges Detroiter Bestattungsinstitut mit einer dreifachen Menge Latexfarbe von heiterstem Zitronengelb beliefert, ertrank die Gemeinde einer neuerbauten Kirche in Ohio in einer Sintflut von Schocklila, erhielt ein Great-Midwest-Farbengeschäft in Milwaukee LKW-Ladungen von Rosa-Luxemburg-Pink... ein Farbton übrigens, der sich auch auf Starks Antlitz wiederfand, als er Ende des Monats ohne viel Federlesens gefeuert wurde.
Noch lange nach dieser Heldentat hatte Walter sich ziemliche Sorgen um seine Zurechnungsfähigkeit gemacht- es war schließlich das erstemal gewesen, daß er etwas getan hatte, das nicht mehr im entferntesten mit Rechtschaffenheit und Ordnung zu vereinbaren war (und was für ein erstes Mal!); gleichzeitig erfüllte ihn der Zwischenfall mit einem seltsamen Hochgefühl. Diese wenigen Augenblicke im Auslieferungsbüro, als er mit fliegender Hast die Bestellungen geändert hatte, waren für Walter Smith ein kurzer Abstecher in die Welt des Nonkonformismus gewesen, und wenn es auch nicht seine Welt war, so hatte es ihm dort großartig gefallen.
Weitreichende Abschweifungen wie diese waren in all den Jahren danach nur seltene Ausnahmen geblieben, doch dafür hatte es Walt geschafft, sich zusätzlich ein, zwei Marotten für den Alltag zuzulegen. Eine davon war seine Angewohnheit, sehr früh aufzustehen und einen Spaziergang zu machen, während das restliche Wisconsin - einschließlich der Bauern und ihrer Milchkühe - noch schlief. Und jetzt, als Rentner, hatte er etwas anderes entdeckt, etwas köstlich Aufrührerisches, das wie geschaffen war für die dunklen, heimlichen Stunden vor dem Morgengrauen.
Walter Smith saß auf einem einsamen Baumstumpf am Rand der Viehweide und holte einen Plastikbeutel mit Reißverschluß aus der Jackentasche. Im Beutel befanden sich vier fertig gerollte Marihuanazigaretten. Er kaufte sie für einen Dollar das Stück bei einem ehemaligen Kumpel aus der Fabrik namens Don Ka-wumm, um sich an jenen Morgen, an denen es ihn überkam, hier draußen auf dem Stumpf einen zu dröhnen. Als Walter erstmals zu diesem Zweck an ihn herangetreten war, hatte Don seinen Ohren nicht getraut, und die Erinnerung an seine Verblüffung war Walt ganz besonders teuer.
Er nahm einen Joint heraus und legte den Beutel neben sich auf den Stumpf. Zündete die Zigarette mit einem angelaufenen Sturmfeuerzeug an und inhalierte tief, um die Glut in Gang zu bringen. Er behielt den Rauch so lang wie möglich in der Lunge und entließ dann eine reinweiße Säule. Er konnte das schon ziemlich gut, mußte nicht mehr nach jedem Zug husten.
Die nächsten zwanzig Minuten tat Walter nichts als rauchen. Normalerweise begnügte er sich mit einem Joint, doch an diesem Morgen ging er beträchtlich weiter; an diesem Morgen machte er sich Sorgen wegen seiner Tochter, seiner einzigen, allereinzigsten Tochter, von der er so sehr gehofft hatte, sie würde sich zu einer wahren, einer hauptberuflichen Rebellin entwickeln.
Sie war vor knapp einundzwanzig Jahren in einer schier nicht enden wollenden Nacht auf die Welt gekommen. Die Wehen hatten dreizehn Stunden gedauert, und irgendwann hatte es Walt im Wartezimmer nicht mehr ausgehalten und sich auf die Suche nach einer möglichst ungewohnten Beschäftigung gemacht. Schließlich hatte er sich an einem Kiosk in der Nähe eine Packung Marlboro gekauft (auf Marihuana wäre er damals nicht einmal im Traum verfallen, aber für einen Nichtraucher stellte
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