For the Win - Roman
nicht«, wiederholte Wei-Dong kleinlaut. Lu gab sich Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Der Gweilo wollte ihm nur helfen. Er konnte nichts dafür, dass er nicht wusste, wie. Lu wusste es ja selbst nicht.
»Ich hab auch keine Ahnung«, sagte Lu. »Warum überlegst du dir nicht was und rufst mich dann zurück? Ich muss mich irgendwo hinlegen. Oder vielleicht zu einem Arzt. Okay?«
»Klar«, sagte der Gweilo. »Na klar. Ich ruf dich bald zurück, keine Sorge.«
Aus jedem Zug, der aus Hongkong nach Shenzhen kam, ergoss sich ein Strom von Menschen: Männer in elegant geschnittenen Anzügen, Kinder aus wohlhabenden Familien, Ausländer und Zeitarbeiter mit ihren Rucksäcken auf dem Weg in die Heimat. Die Menschenflut umspülte zuerst den Taxistand und das Einkaufszentrum und erreichte danach die Straße, auf der sich Lu befand. Während Lu sich durch die Menge kämpfte, lauschte er den zahllosen Gesprächsfetzen über Geschäfte, Produktion – und Goldfarmer.
Der Streik, der Polizeieinsatz und die Farmer waren in aller Munde. Natürlich hatten die meisten Chinesen schon von Goldfarmern gehört, doch normalerweise hörte man nie Geschäftsleute über so was reden. Keine schicken, reich gekleideten Herrschaften, die die ganze Zeit zwischen Hongkong und Shenzhen pendelten und ihren Untergebenen per Headset Befehle gaben.
Was hatte der Gweilo gesagt? Jeder im Netz hat gesehen, wie du zusammengeschlagen wirst! Schauten diese Leute ihn etwa an? Fast kam es ihm so vor. Natürlich hatte er Blut im Gesicht und gerötete Augen – klar, dass sie ihn anstarrten. Vielleicht aber …
»Du bist einer von denen, nicht wahr?« Sie mochte 22 oder 23 sein, und die Nägel der Hand, die sie ihm von hinten auf den Arm legte, waren perfekt manikürt. Als er unwillkürlich einen Satz nach vorn machte und aufschrie, kicherte sie. »Muss wohl so sein«, sagte sie und streckte ihr Handy hoch. »Ich hab mir das Video im Zug fünfmal angesehen. Du solltest dir mal die Kommentare durchlesen. So was Übles!«
Er kannte das: Immer, wenn etwas seinen Weg ins Netz fand, das die Regierung schlecht aussehen ließ, rückte eine Armee von Leuten aus, die eine ganze Flut von Kommentaren abließ: die Regierung sei im Recht, die ganze Geschichte erlogen, die Leute auf dem Video hätten alle möglichen furchtbaren Dinge verbrochen. Lu war klar, dass man nichts davon für bare Münze nehmen durfte. Trotzdem war es unmöglich, so was zu lesen, ohne dass der Zweifel an einem nagte – zuerst nur ganz leicht, dann immer stärker. Und schließlich war die Empörung so betäubt, als hätte jemand eine Prellung mit Eis gekühlt.
Bei der Vorstellung, dass er nun selbst ins Fadenkreuz einer solchen Schmutzkampagne geraten war, hätte er sich fast noch einmal übergeben. Das Mädchen musste es bemerkt haben, denn sie drückte ihn kurz. »Schau doch nicht so. Du hast eine gute Figur gemacht. Diesen Mist wird bestimmt niemand glauben!« Sie schürzte die Lippen. »Na ja, vielleicht ein paar Idioten. Aber weit mehr Leute wird diese Geschichte inspirieren, da bin ich mir sicher. Übrigens heiße ich Jie.«
»Und ich Lu«, sagte er, da ihm kein falscher Name einfallen wollte. Für die Rolle eines Menschen auf der Flucht war er nun mal nicht geschaffen. »War nett, dich kennenzulernen.« Er löste sich aus ihrem Griff und wollte in die Menge abtauchen, doch sie fasste ihn erneut am Arm. »Bitte, nur ganz kurz. Ich muss mit dir reden. Darf ich?«
Er blieb stehen. Zwar hatte er nicht viel Erfahrung mit Mädchen, aber etwas in ihrer Stimme weckte in ihm den Wunsch, Jie anzuhören. »Und wieso?«
»Ich möchte deine Geschichte«, erklärte sie. »Für meine Show.«
»Deine Show ?«
Sie kam näher – so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte – und flüsterte: »Ich bin Jiandi.«
Er sah sie verständnislos an.
Sie schüttelte den Kopf. »Jiandi«, wiederholte sie leise. »Jiandi! Von der Factory Girl Show !«
Er zuckte die Schultern. »Was für eine Show soll das sein?«
»Die läuft jeden Abend! Um neun! Zwölf Millionen Arbeiterinnen hören mir zu! Sie rufen mich wegen ihrer Probleme an. Wir senden über Internet, Audio und, äh … «, sie senkte die Stimme, »über die Falun-Gong-Proxys.«
»Oh!« Er beschloss, den Rückzug anzutreten.
»Hat mit Religion nichts zu tun«, versicherte sie hastig. »Ich will den Frauen nur bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Die Proxys« , sagte sie kaum hörbar, »brauchen wir nur, um die Sendung in die Fabriken zu
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