Forbidden
vielen anderen Dingen voll, ich habe noch nicht mal mitbekommen, dass sie und ihre beste Freundin sich zerstritten haben, ich habe nicht bemerkt, dass sie mich braucht. Sie braucht mich, um ihr zuzuhören, wenn sie erzählt, was sie am Tag alles erlebt hat, um sie zu fragen, was in der Schule los war, und um sie zu loben, wie vorbildlich und tapfer sie sich immer verhält. Weil sie weniger auffällt als Tiffin und Kit, bekommt sie weniger Aufmerksamkeit, was einfach unfair ist. Als sie sich das Knie so schlimm aufgeschlagen hatte, ist keiner gekommen, um sie abzuholen und zu trösten, sie hat den ganzen Nachmittag durchgehalten, und nicht nur das, sie hat noch nicht mal dran gedacht, mir davon zu erzählen, erst als ich das große Loch in ihrer Strumpfhose bemerkt habe.
Ich bin den Tränen nahe, als ich das Krankenhaus erreiche, und mich dort dann durchzufragen übersteigt fast meine Kräfte. Endlich lande ich in der Kinderambulanz, wo man mir sagt, dass es Willa gut gehe, sie aber noch etwas »ruhebedürftig« sei; und dass ich sie sehen dürfe, sobald sie aufgewacht sei. Ich solle in einem kleinen Raum am Ende des Korridors warten, bald werde ein Arzt kommen und genauere Erklärungen geben. Kaum ist die Krankenschwester verschwunden, breche ich in Tränen aus.
Ich biege um die nächste Ecke und erkenne am Ende des weißen Flurs eine vertraute Gestalt. Es ist Lochan, der mit gesenktem Kopf an der Wand lehnt.
»Lochie!«
Er blickt hoch und richtet sich langsam auf, kommt dann hastig auf mich zu, hebt beschwichtigend die Hände.
»Alles in Ordnung, es geht ihr gut, es geht ihr gut. Sie habenihr Beruhigungs- und Schmerzmittel gegeben und eine lokale Anästhesie gemacht und die Schulter wieder eingerenkt. Ich hab sie gerade gesehen, sie schläft, es ist alles in Ordnung. Nach dem zweiten Röntgen haben die Ärzte gesagt, es wird kein Schaden bleiben, sie braucht nicht mal einen Verband, und in spätestens einer Woche wird mit ihrer Schulter alles wieder normal sein! Sie haben gesagt, eine ausgerenkte Schulter kann bei Kindern schon mal vorkommen, das passiert immer wieder, also kein Grund zur Sorge!« Er spricht unnatürlich schnell, als würde er sich selber Mut zusprechen wollen, seine Augen glänzen merkwürdig, er blickt mich fast flehend und um Verzeihung bittend an.
Ich bleibe vor ihm stehen, immer noch außer Atem, und starre ihn an.
»Sie hat sich die Schulter ausgerenkt?«, frage ich.
Er weicht zurück, wie von den Worten getroffen. »Ja, aber das ist alles! Sonst ist nichts passiert! Sie haben sie geröntgt und –«
»Was ist denn passiert?«
»Sie ist vom Küchenschrank gefallen!« Er will nach meiner Hand greifen, doch ich ziehe sie weg. »Es geht ihr gut, Maya, sag ich dir doch! Sie hat sich nichts gebrochen, nur den Arm ausgekugelt. Das klingt dramatischer, als es ist. Sie mussten den Knochen nur wieder zurück in die Gelenkkapsel drücken. Sie haben das unter lokaler Betäubung gemacht, deshalb war es nicht … war es nicht zu schmerzhaft für sie … und jetzt ruht sie sich etwas aus.«
Obwohl Lochan mich beruhigen will, jagen mir sein merkwürdig aufgeregtes Verhalten und seine überhektische Sprechweise einen unheimlichen Schrecken ein. Seine Haare sind völlig zerzaust, als wäre er die ganze Zeit nervös mit der Hand hindurchgefahren, sein Gesicht ist blass, das Hemd hängt ihm aus der Hose und klebt nass geschwitzt an seinem Oberkörper.
»Ich will sie sehen –«
»Nein!« Er packt mich am Arm, als ich an ihm vorbeiwill. »Sie wollen, dass sie sich erst noch ausruht … Sie lassen dich erst zu ihr, wenn sie aufgewacht ist –«
»Das ist mir scheißegal! Sie ist meine kleine Schwester, und sie ist verletzt, und ich will da jetzt rein und sie sehen, und keiner kann mich daran hindern!«, rufe ich.
Aber Lochan hält mich weiter fest, und plötzlich, was ich nie für möglich gehalten hätte, ringen wir in dem langen, leeren grellweißen Krankenhausflur miteinander. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich nach ihm treten soll, doch dann höre ich ihn sagen: »Mach keine Szene, bitte mach keine Szene, dann wird alles nur noch schlimmer.«
Ich reiße mich keuchend los, weiche zurück. »Was wird dann nur noch schlimmer? Wovon redest du?«
Er kommt näher, will seine Hände auf meine Schultern legen, was ich abwehre. Ich will weder durch diese Geste noch durch weitere Worte beschwichtigt werden. Lochan lässt resigniert und verzweifelt die Arme sinken. »Sie wollen Mum sehen.
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