Forbidden
dass er den Tränen nahe ist.
Ich presse den Rücken gegen die Lehne meines Stuhls und beiße die Zähne zusammen, um nicht doch einzugreifen.
»Ich – ich hab sie runtergezogen.« Sein Kinn zittert. Er blickt nicht auf.
»Können Sie bitte genau beschreiben, wie Sie das gemacht haben?«
»Ich – ich bin zu ihr gegangen und h-hab sie am Arm gepackt, und dann – dann hab ich sie runtergezerrt.« Er spricht nicht mehr weiter und presst die Faust gegen den Mund.
Lochan, was erzählst du da? Du würdest Willa nie vorsätzlich etwas antun – das weißt du genauso gut wie ich!
»Sie haben Ihre Schwester am Arm gepackt und heruntergezerrt?« Die Frau zieht eine Augenbraue hoch.
Wieder herrscht Schweigen. Ich höre meinen eigenen Herzschlag. Endlich nimmt Lochan die Faust vom Mund und atmet tief durch. »Ich habe sie am Arm gepackt und – und –« Er blickt zur Zimmerdecke hoch, in seinen Augen stehen Tränen. »Ich weiß, das hätte ich nicht tun dürfen … Ich hab nicht daran gedacht, dass –«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Ich – ich habe sie am Arm gezogen, und sie ist abgerutscht. Sie – sie war in Strümpfen und – und hatte auf einmal keinen Halt mehr. Ich hab ihren Arm weiter festgehalten, weil ich sie – sie halten wollte, damit sie sich nicht verletzt, und dann – dann hörte ich dieses furchtbare Geräusch!« Er schließt die Augen. Die Erinnerung daran muss schrecklich sein.
»Sie haben also weiter ihren Arm gehalten, als sie gestürzt ist, und deshalb hat sie sich die Schulter ausgerenkt? Durch das Gewicht ihres eigenen Körpers?«
»Ich – ich weiß, ich hätte sie besser loslassen und dann auffangen sollen. Ich – ich weiß nicht, warum ich das nicht gemacht habe. Ich dachte, ich hätte sie fest – und dann habe ich ihr die Schulter ausgerenkt!« Ihm läuft eine Träne die Wange hinunter, und er wischt sie verschämt weg.
»Lochie!«
Diesmal blickt er mich an. »Es – es war ein Unfall, Maya!«
»Ich weiß!«, rufe ich empört und besorgt.
Die Frau vom Kinderschutzbund macht sich erneut Notizen. »Müssen Sie sich oft um Ihre Geschwister kümmern, Lochan?«, fragt sie.
Ich sinke in den Stuhl zurück. Lochan presst die Finger gegen die Augen und atmet ein paarmal gleichmäßig ein, versucht, Ruhe zu bewahren. Er schüttelt heftig den Kopf. »Nur wenn unsere Mutter geschäftlich unterwegs ist.«
»Und wie oft ist das der Fall?«
»K–kommt drauf an … alle paar Monate mal …«
»Und wenn sie weg ist, holen Sie Ihre jüngeren Geschwister von der Schule ab, kochen für sie, helfen ihnen bei den Hausaufgaben, spielen mit ihnen, bringen sie ins Bett –«
»Das machen wir gemeinsam«, sage ich schnell.
Die Frau wendet sich an uns beide. »Das muss ganz schön anstrengend sein, wenn man schon einen langen Schultag hinter sich hat –«
»Sie können sich ganz gut selbst beschäftigen.«
»Aber wenn sie sich nicht ordentlich betragen, dann müssen sie sie zurechtweisen.«
»Kaum«, sage ich. »Sie sind ziemlich gut erzogen.«
»Haben Sie jemals gegenüber einem Ihrer Geschwister die Kontrolle verloren?«, fragt die Frau.
Lochan holt tief Luft. Mir fällt auf einmal der Kampf mit Kit ein. »Nein!«, rufe ich zornig. »Niemals!«
Im Taxi auf dem Weg nach Hause schweigen wir alle drei, wir sind alle müde, kaputt, zerschlagen. Willa sitzt auf Lochans Schoß und hat sich an ihn geschmiegt, ihr rechter Arm steckt in einer Schlinge, den Daumen der linken Hand hat sie in den Mund gesteckt, den Kopf hat sie auf Lochans Schulter gelegt. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos streifen ihre goldblonden Haare. Lochan drückt sie fest an sich, schaut aus dem Fenster, er ist blass, seine Augen sind starr nach draußen gerichtet, er blickt mich nicht an.
Zu Hause sieht die Küche aus, als wäre ein Tornado durch sie gefegt. Der Teppich im Wohnzimmer ist mit Chips, Kekskrümeln und Choco Pops übersät. Aber zu unserem großen Erstaunen ist Tiffin bereits im Bett und Kit tatsächlich nicht mit seinen Freunden losgezogen. Aus seinem Zimmer ist Musik zu hören. Während Lochan Willa einen Kakao macht und ihr noch eine Schmerztablette gibt, klettere ich die Leiter zu Kits Speicherzimmer hoch, damit er weiß, dass wir zurück sind.
»Hat sie sich den Arm denn jetzt gebrochen?« Trotz des schnoddrigen Tonfalls merke ich, dass Kit die Sache nicht gleichgültig ist. Ich sehe es in seinen Augen, als er, auf dem Bett liegend, von seinem Gameboy
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