Forbidden
den Tag, der gerade geendet hat, nie gegeben.
Früher war ich so stark: Ich schaffte es, all diese kleinen Dinge zu bewältigen, all die Winzigkeiten, die Tretmühle des Alltags, Tag für Tag. Aber ich merkte nie, dass es Maya war, die mir die Kraft dazu gab. Weil sie da war, hielt ich durch, wir teilten uns die Pflichten und munterten uns gegenseitig auf, wenn der andere niedergeschlagen war. Wir verbrachten zwar den größten Teil der Zeit damit, uns um die Kleinen zu kümmern, aber gleichzeitig kümmerten wir uns auch immer umeinander, und das machte alles erträglich, ja, mehr als das. Wir waren einander auf eine besondere Weise nahe und teilten miteinander ein Leben, das nur uns allein gehörte. Das nur wir allein verstanden. Zusammen waren wir vor der Welt da draußen sicher … Jetzt habe ich nur noch mich, meine Verantwortung, meine Pflichten, die nicht enden wollende Liste von Dingen, die es zu tun gilt … und meine Einsamkeit, immer meine Einsamkeit – diese luftleere Blase an Verzweiflung, die mich langsam erstickt.
Maya geht vor mir aus dem Haus, schiebt Kit vor sich her. Aus irgendeinem Grund scheint sie auf mich wütend zu sein. Willa trödelt herum, bückt sich immer wieder nach Zweigen und den heruntergefallenen, raschelnden Blättern. Tiffin rennt weg, als er weiter vorne Jamie entdeckt, und ich habe nicht die Kraft, ihn zurückzurufen, trotz der belebten Kreuzung vor der Schule. Ich muss mich unglaublich beherrschen, um Willa nicht anzufahren, dass sie endlich mal schneller machen soll; warum sie unbedingt möchte, dass wir beide zu spät kommen. Als wir am Schultor angelangt sind, entdeckt sie eine Freundin und rennt trippelnd auf sie zu, ihr Schulranzen hüpft ihr auf dem Rücken, ihr Mantel weht hinter ihr her. Einen Moment stehe ich da und schaue ihr nach. Ihre feinen goldenen Haare fliegen im Wind. Auf ihrem grauen Kleid sind Flecken vom gestrigen Mittagessen, an ihrem Schulmantel fehlt die Kapuze, ihr Schulranzen hält auch nicht mehr lange, und ihre rote Strumpfhose hat hinten am Knie ein großes Loch. Aber sie beklagt sich nie. Obwohl sie von Müttern und Vätern umgeben ist, die ihre Kinder zum Abschied umarmen; obwohl sie ihre eigene Mutter seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hat; obwohl sie keine Erinnerung an ihren Vater hat. Sie ist erst fünf, aber sie hat schon gelernt, dass es sinnlos ist, von ihrer Mutter eine Gutenachtgeschichte vorgelesen bekommen zu wollen; hat gelernt, dass bei ihr nie Freundinnen übernachten können; dass neue Spielsachen ein ganz großer, seltener Luxus sind und dass zu Hause nur Kit und Tiffin ihren Willen durchsetzen. Im Alter von fünf Jahren hat sie schon eine der härtesten Lektionen des Lebens begriffen: dass es in der Welt nicht gerecht zugeht … Als sie schon halb die Treppe hochgestürmt ist, ihre beste Freundin neben ihr, erinnert sie sich plötzlich daran, dass sie vergessen hat, sich von mir zu verabschieden. Sie dreht sich um und sucht auf dem sich leerenden Schulhof nach meinem Gesicht. Als sie es entdeckt, lacht sie, ein strahlendes Lachen auf ihrem runden, pausbäckigen Gesicht. Ihre Zungenspitze schiebt sich durch die Zahnlücke zwischen ihren Vorderzähnen. Sie hebt ihre kleine Hand und winkt mir zu. Ich winke zurück, meine beiden Arme wedeln durch die Luft.
Als ich in meine eigene Schule komme, schlägt mir Hitze entgegen – sie haben die Heizungen zu stark aufgedreht. Die erste Unterrichtsstunde ist Englisch, aber erst als ich Miss Azley sehe, erinnere ich mich plötzlich an mein Referat. Sie lächelt mir aufmunternd zu. »Brauchen Sie für Ihr Referat den Projektor?«
Ich erstarre augenblicklich, ein grässliches, würgendes Gefühl steigt in mir hoch, und ich sage rasch: »Ich – ich glaube, dass sich das Thema besser für eine schriftliche Arbeit eignet. Ich – ich würde die vielen Fakten gar nicht …«
Ihr Lächeln verschwindet. »Aber das war nicht als schriftliche Arbeit gedacht, Lochan. Sie müssen in diesem Kurs ein Referat halten. Sonst kann ich Ihnen keine Note geben.« Sie hat meinen Schnellhefter genommen und blättert darin herum. »Ich sehe, dass Sie ja alles ausgearbeitet haben. Deshalb schlage ich vor, Sie lesen uns das einfach laut vor.«
Ich schaue sie an, um meine Kehle hat sich eine Hand gelegt, die immer fester zudrückt. »Die – die Sache ist die …« Ich kann kaum mehr sprechen. Meine Stimme ist plötzlich weg, und ich bringe nur noch ein leises Flüstern heraus.
Sie runzelt die Stirn.
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