Forbidden
heute. Bitte nicht heute.
»Was ist es denn, das Ihnen so Angst macht, wenn Sie vor Ihren Klassenkameraden sprechen sollen?«
Sie hat mich völlig unvorbereitet erwischt. Es gefällt mir nicht, wie sie das Wort »Angst« benutzt hat. Es gefällt mir nicht, dass sie so viel über mich zu wissen scheint.
»Ich – ich bin nicht … ich habe nicht …« Meine Stimme zittert. Im Zimmer ist es heiß und stickig. Ich fange an, hektisch zu atmen. Sie hat mich in die Enge getrieben. Mir bricht überall der Schweiß aus.
»Hey, alles in Ordnung.« Sie beugt sich nach vorne, ihre Anteilnahme ist spürbar. »Ich will Ihnen keine Predigt halten, Lochan. Sie sind intelligent genug, um selbst zu wissen, dass Sie in der Lage sein müssen, von Zeit zu Zeit in der Öffentlichkeit zu sprechen – nicht nur, weil Sie sonst nicht durchs Studium kommen, sondern auch, weil es für Sie persönlich ganz wichtig ist.«
Ich wünschte, ich könnte jetzt einfach aufstehen und hinausgehen.
»Haben Sie das Problem nur in der Schule oder die ganze Zeit?«
Warum zum Teufel macht sie das? Eine Vorladung zum Direktor, ein Verweis, eine schlechte Note, ist mir alles egal. Doch bitte nicht das. Ich möchte die Stimme von Miss Azley gern abstellen, aber ich kann nicht. Diese verdammte Anteilnahme schneidet mir wie ein Messer durchs Hirn.
»Es ist die ganze Zeit so, hab ich recht?« Ihre Stimme ist viel zu sanft und freundlich.
Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird, und schnappe panisch nach Luft. Meine Blicke schweifen durchs Klassenzimmer, als suchten sie einen Platz, wo ich mich verstecken kann.
»Dafür muss man sich nicht schämen, Lochan. Nur, vielleicht sollten Sie jetzt anfangen, etwas dagegen zu unternehmen.«
Mein ganzes Gesicht pocht inzwischen. Ich beiße mir auf die Lippe, der scharfe Schmerz ist eine Erleichterung.
»Wie jede Phobie lässt sich auch eine soziale Angststörung überwinden. Ich hab mir gedacht, wir könnten uns vielleicht gemeinsam kleine Schritte ausdenken, damit Sie nächstes Jahr an der Universität mit solchen Situationen besser umgehen können.«
Ich höre meine eigenen hastigen Atemgeräusche. Antworte mit einem kaum merklichen Nicken.
»Wir würden es ganz langsam angehen. Ein Schritt nach dem anderen. Vielleicht könnten Sie sich in jeder Unterrichtsstunde ein Mal melden und etwas beitragen. Das wäre doch vielleicht ein Anfang, glauben Sie nicht? Sobald Sie das eine Mal problemlos verkraften können, fällt es Ihnen bestimmt leicht, sich auch zwei Mal zu melden, dann drei Mal – na, ich glaube, Sie haben begriffen, was ich meine.« Sie lacht, und ihr ist anzumerken, dass sie Optimismus verbreiten will. »Und nach kurzer Zeit wird es so sein, dass Sie sich andauernd melden, und kein anderer wird mehr zu Wort zu kommen!«
Ich versuche zurückzulächeln, aber ich krieg es nicht hin. Ein Schritt nach dem anderen … Ich hatte jemanden, der mir dabei helfen wollte. Sie hat mich mit ihrer Freundin zusammengebracht, hat mich ermuntert, meinen Aufsatz der Klasse vorzulesen. Sie hat versucht, mir ganz behutsam bei meinem Problem zu helfen – ohne dass ich es merkte. Und jetzt habe ich sie verloren, an Nico DiMarco. Ein Abend mit ihm – und Maya wird merken, was für ein totaler Versager ich bin, sie wird mich mit den gleichen Augen sehen wie Kit und Mum …
»Mir ist aufgefallen, dass Sie in der letzten Zeit ziemlich gestresst wirken«, sagt Miss Azley plötzlich. »Was ich gut verstehen kann, das letzte Schuljahr fordert von den Schülern ziemlich viel. Aber Sie haben sehr gute Noten, Ihre Aufsätze sind hervorragend, da müssen Sie sich also keine Sorgen machen …«
Ich nicke.
»Wird es Ihnen zu Hause manchmal zu viel?«
Ich schaue sie erschrocken an.
»Auf mich warten jeden Tag zwei Kinder, wenn ich nach Hause komme. Das kann ganz schön anstrengend sein. Ich glaube, bei Ihnen sind es vier Geschwister, um die Sie sich kümmern müssen, ist es nicht so?« Sie lächelt mich wieder an.
Mein Herz setzt fast aus. Ich starre sie an. Mit wem zum Teufel hat sie über mich gesprochen?
»N-nein! Ich – ich bin der Älteste. Ich bin siebzehn. Ich habe zwei Brüder und – und zwei Schwestern, und wir wohnen bei unserer Mutter –«
»Lochan, das weiß ich doch. Ist schon gut.« Erst als sie mich unterbricht, merke ich, dass ich plötzlich laut geworden bin.
Um Himmels willen, versuch, ruhig zu bleiben!, sage ich zu mir selbst. Verhalte dich nicht, als ob du irgendwas zu verbergen
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