Forbidden
»Die Sache ist?«
»Es – es macht doch wirklich nicht viel Sinn, wenn ich alles nur ablese …«
»Warum versuchen Sie es nicht einfach mal?« Ihre Stimme istplötzlich sanft – zu sanft. »Das erste Mal ist immer am schwersten.«
Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. »Aber … es geht nicht. Tut mir – tut mir leid.« Ich nehme ihr den Schnellhefter aus der Hand. »Ich – ich werde die schlechte Note durch meine schriftlichen Arbeiten wieder ausgleichen.«
Dann drehe ich mich schnell um und setze mich auf meinen Platz. Hitzewellen strömen durch meinen Körper. Zu meiner großen Erleichterung lässt Miss Azley mich gehen, ohne mir noch einmal etwas nachzurufen.
Aber das Thema meines Referats behandelt sie während der Unterrichtsstunde auch nicht. Stattdessen füllt sie die Lücke, die nun entstanden ist, indem sie uns von Silvia Plath und Virginia Woolf erzählt, vom Leben der beiden Schriftstellerinnen. In der Klasse entsteht eine hitzige Debatte über den möglichen Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und künstlerischer Begabung. Normalerweise würde mich dieses Thema sehr interessieren, aber heute gleitet alles an mir ab.
Draußen öffnet der Himmel seine Schleusen, und heftiger Regen schlägt gegen die schmutzigen Fenster. Wie Tränen läuft das Wasser an ihnen herab. Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Nur noch fünf Stunden bis zu Mayas Verabredung. Aber vielleicht hat sich DiMarco ja beim Fußballspiel das Bein gebrochen. Vielleicht liegt er gerade mit Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus. Vielleicht hat er sich plötzlich in ein anderes Mädchen verliebt. Irgendein anderes Mädchen. Jedes. Nur nicht meine Schwester. Er hat die ganze Schule zur Auswahl. Warum ausgerechnet Maya? Warum die eine Person, die mir mehr bedeutet als alles andere auf der Welt?
»Lochan Whitely?« Die laut erhobene Stimme fährt durch meinen Körper, als ich mich inmitten der anderen Schüler zur Tür drängle. Ich wende den Kopf und sehe, dass Miss Azley mich zu sich winkt. Ich habe keine andere Wahl, als mich gegen den Strom zu ihr zurückzukämpfen.
»Lochan, ich denke, wir sollten uns mal miteinander unterhalten.«
Bitte nicht. Bitte nicht heute. »Ähm, ja, gern, aber … tut – tut mir leid … Ich – ich muss gleich in meinen Mathe-Kurs«, stottere ich.
»Es wird nicht lange dauern. Ich werde Ihnen eine Entschuldigung schreiben.« Sie deutet auf den Stuhl vor ihrem Pult. »Setzen Sie sich.«
Ich ziehe den Schultergurt meiner Tasche über den Kopf und setze mich hin. Hier gibt es für mich kein Entkommen. Miss Azley geht zur Tür und schließt sie mit einem harten, metallischen Laut. Genau so muss es sich anhören, wenn sich eine Gefängnistür schließt.
Dann kommt sie zu mir zurück, setzt sich auf den Stuhl neben mir und wendet sich mir mit einem aufmunternden Lächeln zu. »Kein Grund, so besorgt dreinzusehen, Lochan. Ich bin mir sicher, Sie haben inzwischen herausgefunden, dass ich nicht beiße!«
Ich zwinge mich, sie anzuschauen, weil ich hoffe, dass sie die ganze Leier, wie wichtig die aktive Mitarbeit im Unterricht ist, schneller herunterrasselt, wenn ich mich kooperativ verhalte. Stattdessen wählt sie einen Umweg. »Was ist denn mit Ihrer Lippe, Lochan?«
Mir wird bewusst, dass ich schon wieder an meiner entzündeten Stelle nage. Ich zwinge mich, damit aufzuhören, fahre mit den Fingern darüber. »Nichts … das ist … nichts.«
»Sie sollten etwas Vaseline drauftun und stattdessen Kugelschreiber kauen.« Sie holt zwei angekaute Kulis hervor, die sie mir unter die Augen hält. »Weniger schmerzhaft und erfüllt den Zweck genauso gut.« Wieder lächelt sie mir zu.
Ich kann beim besten Willen nicht zurücklächeln. Der vertrauliche Small Talk verwirrt mich. Etwas in ihren Augen sagt mir, dass sie mir keinen Vortrag über Mitarbeit in der Klasse, Teamwork und den üblichen Kram halten wird. Sie schaut mich nicht ermahnend an, sie scheint sich wirklich um mich zu sorgen.
»Sie wissen, warum ich Sie dabehalten habe, nicht wahr?«
Ich nicke als Antwort schnell, meine Zähne scheuern automatisch über die wunde Stelle. Hören Sie, ich weiß das zu schätzen, aber bitte nicht heute, würde ich ihr am liebsten sagen. Heute ist einfach kein guter Tag dafür. An einem anderen Tag könnte ich so ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen, das mir eine überengagierte Lehrerin aufdrängt, mit zusammengebissenen Zähnen und viel Kopfnicken durchstehen, aber nicht
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