Forbidden
die mir vorher noch nie aufgefallen sind: Fingerabdrücke an der Wand, das gesprenkelte Muster des Linoleums, mit feinen Rissen durchzogen wie eine eingedrückte Eierschale. Mechanisch setze ich einen Schritt vor den anderen. Stimmen branden aus weiter Ferne an mich heran, aber ich reagiere nicht. Alle Geräusche prallen an mir ab. Stühle scharren auf dem Boden, Lachen und Stimmengewirr, Francies Gequassel, die dröhnende Stimme der Geschichtslehrerin. Sonnenstrahlen brechen durch die dichte Wolkendecke, fallen durch das große Glasfenster und schräg über den Tisch direkt in meine Augen. Weiße Lichtflecken bilden sich vor mir im Raum, tanzende Blasen aus Farbe und Licht, die meine Aufmerksamkeit fesseln. Die Klingel schrillt. Francie ist neben mir, sie hat den Mund voller Fragen, ihre rot geschminkten Lippen öffnen und schließen sich ununterbrochen – Lippen, die bald Lochans Mund berühren werden. Ich muss es ihr jetzt sagen, bald, gleich, aber mir versagt die Stimme, und aus meinem Mund kommt nur leere Luft.
Ich schwänze die zweite Stunde, um Francie zu entkommen. Wandere durch die leere Schule, meine riesige Gefängniszelle, auf der Suche nach Antworten, die nie gefunden werden können. Meine Schuhe schlagen gegen die Stufen, als ich die Treppen rauf- und runtergehe und in jedem Stockwerk eine Runde drehe, eine und noch eine und noch eine, auf der Suche nach … Wonach? Irgendeine Erlösung? Das harte Winterlicht wird weißer, flutet durch die Fenster und wird von den Wänden zurückgeworfen. Ich fühle den Druck auf meinem Körper, es brennt mir Löcher in die Haut. Ich verliere mich in diesem Labyrinth aus Korridoren, Treppen und Stockwerken, die wie ein Kartenhaus aufeinandergetürmt sind. Wenn ich immer weitergehe, vielleicht finde ichdann den Weg zurück, zurück zu der Person, die ich war. Ich bewege mich jetzt langsamer. Fließender. Ich schwimme durch den Raum. Die Erde hat ihre Schwerkraft verloren, alles um mich herum fühlt sich flüssig an. Ich komme wieder zu einer Treppe, Stufen stürzen in die Tiefe. Die Sohle meines Schuhs löst sich von der obersten Stufe, und ich stolpere ins Nichts.
Fünfzehntes Kapitel
Lochan
Ich starre auf Nico DiMarcos Hinterkopf. Ich fixiere seine kräftige, breitfingrige Hand neben der Tischkante, und bei dem Gedanken, dass diese Finger Maya berühren könnten, wird mir schlecht. Ich kann nicht danebenstehen und zusehen, wie irgendein Kerl mit meiner Schwester ausgeht, genauso wenig wie ich selbst mit Francie oder irgendeinem anderen Mädchen ausgehen und so tun kann, als könnte dieses Mädchen Maya ersetzen. Ich muss Maya unbedingt gleich treffen und hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist. Ich muss ihr sagen, dass unsere Vereinbarung nicht gilt. Vielleicht gelingt es ihr irgendwann, jemanden zu finden, mit dem sie glücklich sein kann. Und ich werde mich dann auch freuen, für sie. Doch für mich wird es nie eine andere geben, das spüre ich mit unumstößlicher Gewissheit. Die absolute Gewissheit dieser Tatsache erdrückt mich fast.
Über der Tafel rücken die Zeiger der Uhr langsam vorwärts. Die zweite Stunde ist fast vorbei. Sie hat es Francie doch noch nicht gesagt? Bestimmt wartet sie damit bis zur ersten Pause. Ich fühle mich sterbenskrank. Nur weil ich merke, dass ich mit unserer Vereinbarung nicht zurande komme, heißt das noch lange nicht, dass es ihr genauso ergeht. Es mag zwar meine Idee gewesen sein, aber der Vorschlag, dass wir beide es versuchen sollten, kam von ihr. Vielleicht hat sie sich ja inzwischen entschlossen,DiMarco wirklich eine zweite Chance zu geben. Vielleicht hat ihr die Qual der letzten Wochen klargemacht, wie erleichternd es wäre, einfach eine ganz normale Beziehung mit einem ganz normalen Jungen zu haben.
Die Stunde ist zu Ende, und ich schieße regelrecht von meinem Stuhl hoch, schnappe mir, schon im Laufen, Tasche und Jacke, ohne darauf zu achten, welche Hausaufgaben uns der Lehrer bis zum nächsten Mal aufgibt. Vor der nächsten Treppe herrscht ein dichtes Gedränge und Geschubse. Ich stürze zur Treppe am anderen Ende des Flurs. Auch dort haben sich, anders als sonst, schon viele Schüler versammelt. Nur dass sie alle reglos sind. Sie stehen wie erstarrt da, eine amöbenartige Ansammlung, stecken die Köpfe zusammen, tuscheln aufgeregt miteinander. Ich schiebe mich an ihnen vorbei. Ein dickes rotes Band, das quer über die Treppe gespannt ist, versperrt mir den Weg. Ich will mich darunter hindurchducken, aber eine
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