Forbidden
innerlich auffrisst, langsam, aber unaufhörlich.
Der Unterricht geht weiter, das Schuljahr geht weiter, grau, leer, unaufhaltsam, unerbittlich. Zu Hause laufen die Tage in der immer gleichen Routine ab, ein Tag nach dem anderen. Aus dem Herbst wird Winter, die Tage werden deutlich kürzer. Lochan verhält sich, als ob sich die Nacht damals nie ereignet hätte. Wir beide verhalten uns so. Welche andere Möglichkeit haben wir denn? Wir besprechen beide die Alltagsdinge, aber unsere Blicke kreuzen sich fast nie, und wenn es geschieht, dann nur ganz kurz, bevor sie unruhig weiterwandern. Ich würde gern wissen, was er denkt. Wahrscheinlich hat er es sich einfach aus dem Kopf geschlagen, weil so klar ist, dass das zwischen uns nicht sein darf. Außerdem hat er sowieso viel zu viel um die Ohren. Seine Englischlehrerin hat es sich weiter in den Kopf gesetzt, ihm seine Angst vor dem öffentlichen Sprechen in der Klasse zu nehmen. Ihre Stunden kosten ihn viel Kraft. Und Mums Verhalten wird immer unerträglicher. Sie verbringt mehr und mehr Zeit mit Dave, und die wenigen Male, die sie bei uns aufkreuzt, ist sie fast nie mehr nüchtern. Ab und zu geht sie auf große Shoppingtour und kehrt mit Geschenken zurück, um ihr Schuldgefühl zu betäuben: billige Spielsachen, die nach ein paar Tagen kaputt sind, noch mehr Computerspiele für Kit, Berge von Süßigkeiten. Ich beobachte das alles wie aus großer Entfernung, unfähig, mich da noch länger einzumischen. Lochan versucht krampfhaft, wenigstens etwas Ordnung in unseren Haushalt zu bringen, aber ich spüre, dass er sehr bald auch nicht mehr kann. Trotzdem kann ich ihm nicht beistehen.
Ich sitze am Küchentisch und sehe ihm zu, wie er Willa bei den Hausaufgaben hilft. Und wieder überfällt mich dieser grässliche Schmerz, das Gefühl eines tiefen Verlusts. Ich rühre in meinem kalten Tee und nehme alles wahr, was mir an ihm so vertraut ist: die Art und Weise, wie er sich immer wieder die Haare aus der Stirn streicht, wie er auf seiner Unterlippe kaut, wenn er angespannt ist. Seine Hände, die mich berührt haben, seine Lippen, die mich geküsst haben. Der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich ihn anschaue, ist so groß, dass ich es fast nicht ertragen kann. Trotzdem zwinge ich mich, ihn weiter zu betrachten, so viel wie möglich von ihm in mich aufzunehmen, damit ich ihn wenigstens noch in mir bewahre, wenn ich ihn einmal ganz verloren haben werde.
»Um die Ecke kommt ein F-u-c-h-s.« Willa buchstabiert das letzte Wort. Sie kniet auf dem Küchenstuhl und fährt mit demZeigefinger langsam über ihr Lesebuch. Ihre feinen goldblonden Haare hängen ihr vors Gesicht und streifen leise knisternd über die Seite.
Sie spricht jeden Laut einzeln aus.
»Denk noch mal nach, Willa!«, sagt Lochan. »Wie spricht man das letzte Wort aus?«
Willa zuckt mit den Schultern, fährt dann noch einmal mit dem Zeigefinger das Wort entlang. Plötzlich leuchtet ihr Gesicht auf.
»Fu-ch-s!« Sie schaut Lochan erwartungsvoll an.
»Schon besser, Willa! Aber immer noch nicht ganz. Sprich das Wort noch einmal schnell aus. Wie sagt man?«
»Fu-ch-s!«, sagt Willa etwas schneller.
Lochan fährt sich mit der Hand durch die Haare.
»Denk noch einmal nach, Willa! Hat die Lehrerin nicht was dazu gesagt? Das ist ein besonderes Wort.«
Willa runzelt die Stirn. Sie strengt sich an.
»Das ›ch‹ spricht man hier nicht wie in ›ich‹ aus, sondern?«
Lochan zeigt auf das Bild auf der rechten Seite, wo ein Fuchs seinen Kopf um die Hausecke streckt.
Willa strahlt. »Fucks!«, ruft sie. »Um die Ecke kommt ein Fucks!«
»Kluges Mädchen! Ich hab doch gewusst, dass du es kannst.« Lochan lächelt, aber seine Augen sagen etwas anderes. In seinen Augen ist eine Traurigkeit, die nie verschwindet.
Willa liest ihre Seite zu Ende und hüpft dann ins Wohnzimmer zu Tiffin vor den Fernseher. Ich schlürfe meinen Tee und schiele über den Rand der Tasse zu Lochan. Er bleibt einen Augenblick erschöpft sitzen, lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Schulbücher,Hefte und ungeöffnete Post liegen vor ihm auf dem Tisch. Das Schweigen zwischen uns zieht sich immer weiter in die Länge.
»Geht es dir gut?«, frage ich schließlich.
Er lächelt ein kleines, verlegenes Lächeln, scheint zu zögern und blickt dann auf den Tisch mit seinem Durcheinander. »Kann ich nicht wirklich behaupten«, erwidert er nach einer Weile. Er vermeidet es, mir in die Augen zu schauen. »Und du?«
»Nein.« Ich presse die Tasse gegen meine
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