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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Aufstöhnen bis in den Wagen der Einsatzleitung, »schon wieder drüber«, sagte Markert dann. Manchmal flackerten Sprechchöre auf, unterbrochen immer wieder von einem höhnischen Grölen, das sich Tamar Wegenast nicht erklären konnte, sie verstand ein »Umba-Humba« und blickte fragend zu Markert, der sich auf einem Monitor die Aufnahmen der Überwachungskameras einspielen ließ.
    »Hoffentlich haut er ihnen eins rein«, sagte er und änderte die Einspielung auf dem Monitor. Eine Gruppe Glatzköpfiger erschien auf dem Bildschirm, einige mit dem hoch gestreckten Mittelfinger, andere die Hände als Schalltrichter vor den Mund haltend.
    »Dresdner sind das. Das Grölen geht gegen den Ogi«, erklärte er. »Ogilveya, die Nummer zehn beim SSV, kommt aus Ghana.« Er sah zu ihr hin. »Das soll Affengebrüll sein, verstehst du?«
    »Warum bricht der Schiedsrichter nicht ab?«
    »Deshalb?«
    »Ja, deshalb.«
    Markert schnaufte auf. »Was glaubst du, wie viele Spiele da jedes Wochenende abgebrochen werden müssten in diesem Land...«
    Irgendetwas pochte an Tamars Hüfte. Sie griff in ihr Jackett, holte ihr Mobiltelefon heraus und meldete sich, mit der freien Hand die Sprechmuschel abschirmend, und fügte hinzu: »Einen Augenblick bitte.« Sie nickte Markert zu, eine wortlose Bitte um Entschuldigung, schob die Tür des Einsatzwagens auf und sprang nach draußen.
    »Ja?«
    »Kannst du...?«, sagte eine ferne fremde Stimme und wurde im nächsten Augenblick begraben unter einer anschwellenden Woge von Gebrüll. Tamar ging hinter den Einsatzwagen, hielt sich mit der freien Hand das andere Ohr zu und rief:
    »Hannah, bist du das?«
    »... kannst du kommen, nach Krakau?«, fragte die Stimme, die jetzt flach und atemlos klang wie die eines verstörten Kindes. »Morgen vielleicht schon? Bitte...«
    Ein Lautsprecher dröhnte über das Stadion hinweg, noch einmal brüllte die Menge auf, und auf der Anzeigetafel blinkte in Leuchtschrift:
    42. Min. 1:0 Ogilveya
    D er Regionalexpress aus Cottbus, fahrplanmäßige Ankunft 01.02 Uhr, kam mit wenigen Minuten Verspätung in Berlin/ Ostbahnhof an. Es stiegen nur wenige Fahrgäste aus, darunter ein Mann mit kurzen weißblonden Haaren, der mit Jeans und Jeansjacke für die Tages- und Jahreszeit zu dünn angezogen war. Er hielt eine Wasserflasche unter dem Arm, sonst hatte er kein Gepäck.
    Ella und Margot hatten ihn mit nach Weißwasser genommen. Dafür und für einen Hunderter hatte er ihnen den Rest seines Notvorrats abgegeben, dazu seine letzten Złoty. Andere Vereinbarungen waren erst gar nicht angestrebt worden.
    Von Weißwasser aus war er mit der Lausitzbahn nach Cottbus gefahren und von dort nach Berlin/Ostbahnhof. Warum? Weil es sich so ergeben hatte. Weil kein anderer Zug mehr fuhr. Weil er in Berlin niemand kannte, was bedeutete, dass auch ihn niemand kannte, und weil, wer niemand sein will, am besten eine große Stadt aufsucht.
    Er hielt Berlin für eine große Stadt.
    In Cottbus hatte er eine Bratwurst gegessen, jetzt besaß er noch sechzig Euro und ein paar Münzen. Er war müde und aufgedreht zugleich, und noch immer sah er auf den Grund der Dinge. Wenn er sich jetzt eine Absteige suchte, war er in ein paar Stunden so gut wie blank und hatte vielleicht nicht einmal richtig geschlafen. Ach, Schlaf! Nur wer nichts braucht... Ein- oder zweimal war er schon in Berlin gewesen, einmal, als er noch in der Realschule war, mit der Klasse, das andere Mal zur Love Parade, da hatte er sich bei einer Evelyn Filzläuse eingefangen.
    Auf dem Stadtplan im Bahnhof hatte er gesehen, dass er in westlicher Richtung zum Tiergarten kommen müsste, dort würde er die Nacht - oder was davon übrig war - verbringen können. Das Gehen strengte ihn an, er hatte das Gefühl, seine Füße seien in den Schuhen gequollen. Die Straßen, durch die er ging, erschienen ihm auf eine unwirkliche Weise in die Breite gezogen, wie eine aus den Fugen geratene Computer-Animation, und nahezu menschenleer, kaum jemand schien hier zu wohnen.
    Irgendwann kam ihm ein einzelner Mann entgegen und blieb stehen, der Jüngste war er nicht mehr, aber den Gürtel des hellen Sommermantels hatte er straff angezogen.
    »Na?«
    Er schüttelte nur den Kopf und ging weiter, an einer Telefonzelle vorbei, an der er nicht stehen blieb. Es hatte so gar keinen Sinn, in Frankfurt anzurufen. Wenn Tabea sich nicht meldete, mochte das das eine bedeuten oder das andere. Meldete sie sich... Er verwarf den Gedanken sofort. Unerträglich, diese Stimme,

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