Forellenquintett
die jetzt mit Sicherheit ganz sanft, ganz beherrscht wäre, die eine Pause machen und dann fragen würde:
»Und warum rufst du an?«
Die Straße verschwand in einem Nirgendwo, an dessen Rändern sich Gebäude aus Glas und Stahl gegen den Wind aufbäumten, manche wie ein Schiff gebaut, mit einem Bug das Nichts durchpflügend. Er zögerte und sah zu der Stahl- und Glasfront auf der anderen Straßenseite hinüber, in der sich ein Durchgang zu einem Innenhof oder einer Galerie öffnete. Er blieb stehen. Der Innenhof sah so blank poliert und stählern abweisend aus wie die Außenfront. Rot und gelb blinkte die Neonreklame einer Imbisskette, er hatte keinen Hunger, unvermittelt schüttelte ihn Ekel.
Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Es gab keine Zuflucht, nirgends. Er war ein Schiffbrüchiger im Nichts, und niemand würde ihn hören, warum war er nicht Richtung Prenzlauer Berg gegangen? Dort müsste es doch Leute geben, mit denen einer reden kann. Er überlegte, ob er zurückgehen sollte, aber das war zu weit, sogar für ihn... Hart rempelte ihn eine Schulter.
»Bist’n Stricher?«
Er sah hoch. Ein junger Kerl stand vor ihm, ein feister Bubi, vermutlich aus der Lederszene, so gut kannte er sich nicht aus. Das Taschenmesser fiel ihm ein, grotesk! Er hob beide Hände, die Handteller nach vorne gekehrt, und versuchte ein Lächeln. Die Wasserflasche fiel zu Boden.
»Dir is was runtergefallen, vor was hast’n Schiss?«
Er wollte sagen, dass es kein Problem gebe, nirgends, er suche nur einen Platz zum Schlafen, aber dann sah er aus den Augenwinkeln einen Schatten oder eine Bewegung, er wollte sich noch ducken, aber da schlug der Schatten schon an seiner Schläfe ein. Sein Kopf flog zur Seite, fern blinkten die Neonröhren der Hamburger-Kette und verschwanden wieder, die Steinplatten des Trottoirs sprangen ihm ins Gesicht, klar doch, ein zweiter Kerl, das machte der Bubi nicht allein...
Zeit verging.
Wie viel Zeit?
Weiß nicht.
E ine Lampe, die ihm grell ins Gesicht leuchtete. Jemand sprach mit ihm. Die Stimme klang auffordernd, drängend. Er wollte sich nicht drängen lassen. Nie mehr. Nichts erwarten, nichts befürchten, schweigen. Wieder helles Licht. Fragen. Wozu?
Zwei Leute unterhielten sich. »Keine Brieftasche...«
Er hielt die Augen geschlossen. Vielleicht hätte er sie öffnen können. Aber wozu?
»Kein Ausweis, nichts...«
Er war müde. Irgendwann würde er schlafen können. Warum nicht gleich?
»Kein Geld. Eine leere Packung...«
Schlafen, ja. Ganz beruhigt würde er das tun. Keine Papiere, kein Ausweis. Kein Geld. Hat alles der Bubi. Und sein Kumpel. Leute von hier.
Was ging es ihn an?
Donnerstag, 29. September
T ief unten tauchten Felder, Wälder, Siedlungen auf, dann eine Bergkuppe mit einer Kirche, eine Flussschleife schimmerte in der Sonne. Die Maschine war bereits im Sinkflug, Landebahnen wurden sichtbar, grau gestrichene bauchige Transportmaschinen, Militärlastwagen. Tamar betrachtete sie, ohne sie wahrzunehmen, und da waren sie auch schon wieder verschwunden. Mit einem kaum merklichen Holpern setzte der Turbojet der LOT auf, nach fünf Viertelstunden Flug war Tamar in Krakau angekommen.
Die Abfertigung dauerte länger, als es sonst in der Europäischen Union für deren Bürger üblich war. Eine Beamtin studierte Tamars Pass in aller Seelenruhe, ehe sie ihn mit der gleichgültigen Handbewegung zurückgab, die das Erkennungszeichen aller Zöllner ist.
Hinter der Barriere wartete eine kaum mittelgroße schmale Frau, die Augen von einer Sonnenbrille geschützt, die kurz geschnittenen Haare unter einem Kopftuch versteckt. Was soll diese Kostümierung?, dachte Tamar ärgerlich und wollte stehen bleiben, ging dann aber doch auf Hannah zu, küsste sie scheu auf beide Wangen und schob sie wortlos mit sich zum Ausgang.
Im Taxi, einem klapprigen Opel mit ausgeleierter Federung, gab Hannah die Adresse eines Hotels an. Dann schwieg sie wieder und sah starr geradeaus.
Die Wohnung ist also versiegelt, dachte Tamar. Das bedeutet, dass es dort auch passiert ist.
Es? Tu nicht so! Du weißt, was geschehen ist.
Die Landstraße, über die das Taxi fuhr, näherte sich dem Weichbild einer größeren Stadt. Links und rechts standen adrette kleine Häuser, mit abgezäunten Gärten und bellenden Hunden darin.
»Ich hab dir im Hotel ein hübsches Zimmer reservieren lassen«, sagte Hannah, und wieder hatte sie diese flache, unbelebte Stimme. »Ein bisschen Art Déco und mit Blick auf
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