Forellenquintett
pünktlich, so übel ist das doch gar nicht mit der Eisenbahn hier, dachte er, und die Graffiti auf den Waggons und darin sind auch nicht wilder als an der S-Bahn zwischen Niederrad und Offenbach. Er fand ein fast leeres Abteil - einzig eine dicke Frau saß dösend in der Ecke am Fenster, sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu und entschied sich, ungefährdet weiterdösen zu können. Freilich war es offenbar ein Abteil für Niepalacy, vermutlich also für Nichtraucher, aber im Augenblick brauchte er keine Zigarette, schon den ganzen Tag über hatte er kein Bedürfnis danach gehabt, überhaupt hatte er in ebendiesem Augenblick begriffen, was Janis Joplin gemeint hatte (auch wenn sie selbst sich vielleicht gar nicht daran gehalten haben mochte): nichts erwarten, nichts befürchten - das war es schon, zwei Grundsätze, kristallklar und mit Goldrand, damit konnte man durchs ganze Leben kommen, wenn man es denn nicht schon verloren hatte. Das Schweigen sollte er sich vielleicht noch angewöhnen, nie wieder diesen Geschwätzigkeitsdurchfall, dieses Wortgepfluder, das immer nur eines verrät: das, was man auf keinen Fall hat sagen wollen.
Er sah zum Bahnsteig hinaus und betrachtete einen Fahrplan-Aushang, der mit Hakenkreuzen verschmiert war, dann bewegte sich der Aushang langsam nach rechts, der Zug nahm Fahrt auf. Er lehnte sich zurück, geschwärzte Mauern glitten an ihm vorbei, braunrostige Güterwaggons auf einem Seitengleis, Kohlenhalden, von irgendwelchen Hügeln sahen Wohnblocks auf die Bahnstrecke herab, aus den Fenstern der Häuser war buntfarbige Wäsche in die Sonne gehängt. Fast körperlich spürte er, wie sich die Stadt von ihm löste, die Stadt und ihre hunderttausend Augen, sie hatten sich an ihm festgesaugt, und nun mussten sie loslassen, mit so einem schmatzenden glitschigen Geräusch taten sie das, wenn einer die Ohren dafür hat, dann konnte er das gut hören und die anderen Dinge auch, das verborgene Knistern und Knacken in der Welt, und in der Tiefe dieses schuppende anschleichende Geräusch, das vor allem.
D ie Kriminalkommissarin Tamar Wegenast hatte den Nachmittag am Computer verbracht und ihren Abschlussbericht zum Fall des Obdachlosen geschrieben, den man aus Frust und Ärger und Langeweile zu Tode getreten hatte. Sie hatte sich gezwungen, kühl und emotionslos zu bleiben. Es war ihr Job, einen präzisen, sachlichen und unanfechtbaren Bericht darüber vorzulegen, wie dieser Mann zu Tode gekommen war, einen von keiner Gefühlsregung verfälschten Bericht. Es war auch das Einzige, was sie noch für den Toten tun konnte. Nur fiel ihr diese professionelle Sachlichkeit in letzter Zeit immer schwerer.
Es war das Gespräch mit Hannah, sagte sie sich, als sie den Neuen Bau verließ und am Münster vorbei in Richtung von Tonios Café ging, wo sie ein Sandwich essen wollte. Nie tun dir diese Gespräche gut. Immer bleibt ein Widerhaken. Und gemeldet hat sie sich auch nicht mehr, natürlich nicht, immer mehr ähnelt sie diesen Galeristinnen und Kunsthändlerinnen, all diesen Maskenfrauen mit ihrem Kometenschweif schwuler Experten.
Schluss, ermahnte sie sich und verlangsamte ihre Schritte, alle unsere Klischees tun wir jetzt brav wieder ins Schächtelchen. Es war noch warm genug, um draußen zu bleiben, und so waren die meisten Tische vor Tonios Café besetzt. An einem davon saß ein Mann mit stoppelkurzem Haar und gerötetem Gesicht, er winkte ihr zu und wies einladend auf den freien Platz ihm gegenüber.
Tamar dankte und setzte sich. »Erzählen Sie mir was.«
»Da haben Sie was falsch verstanden«, antwortete Frenzel, der Mann mit den Stoppelhaaren. »Es ist ja wohl an der Mordkommission, einem Not leidenden Gerichtsreporter...«
Tamar schüttelte den Kopf. »Was ich Ihnen erzählen könnte, will vermutlich nicht einmal ich in der Zeitung lesen.« Maria kam, und Tamar bestellte ein Mineralwasser und ein Salami-Sandwich.
»Aber was unsere hoffnungsvolle Jugend so treibt, um nur ein Beispiel zu nennen: das möchte man doch gerne wissen, ansatzweise wenigstens, finden Sie nicht?«
»Nein«, entschied Tamar. »Außerdem hat es zu dem Mord an dem Obdachlosen bereits eine Pressemitteilung gegeben...«
»Eine Pressemitteilung!«, rief Frenzel klagend aus und hob beschwörend beide Hände. »O Herr, lass Blumen blühen am trockenen Holze!«
Das Mineralwasser wurde vor Tamar abgestellt, und sie registrierte, dass die Bewegung, mit der dies geschah, eine wenig marienhafte war. Aber so ist
Weitere Kostenlose Bücher