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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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weggeräumt hatte.
    Sie hob das Tablett an der Seite vorsichtig an und zog das Zeitungspapier darunter hervor.
    »Was machen Sie da?«, rief Tabea ärgerlich und streckte die Hand aus. Doch die Kommissarin war bereits dabei, das Papier auseinanderzufalten. Was sie in den Händen hatte, war ein Teil des »Express« vom 6. Oktober.

Montag, 10. Oktober
    E r war wieder in der Schule, und sie würden ihn nicht versetzen, natürlich würden sie das nicht, aber dann sollte er trotzdem in der Aula Chopins Etüde Nummer zwölf op. 10 vorspielen, von jetzt auf gleich, das konnte niemand. Wenn er wenigstens die Noten gehabt hätte, das heißt, Noten hatte er schon, aber er konnte sie nicht lesen, er lag im Bett, und die Jalousien waren heruntergelassen, wieso hatte sein Zimmer Jalousien? Durch die Ritzen fiel gerade soviel Licht, dass er die Umrisse des Fensters und der Balkontür erkennen konnte. Schließlich fiel es ihm wieder ein. Er war nicht mehr in der Charité, er war in diesem Dorf am Bodensee, er hatte ein Balkonzimmer für sich, ein Zimmer mit einem Stutzflügel darin, einem Flügel, auf dessen Lack kein Stäubchen geduldet wurde und der auf ihn zu warten schien wie eine Verheißung oder wie eine besonders tückische Falle, hatte er deshalb von Chopin geträumt?
    Eher nicht. Träume sind anders gestrickt. Ein Traum will dir etwas sagen. Zum Beispiel, dass es vollkommen gleichgültig ist, ob sie dich versetzen oder nicht. Denn die Schule hast du hinter dir. Und wenn einer nichts versteht und nichts spricht und keine Noten lesen kann, dann braucht er auch keine Etüde aus op. 10 zu spielen, so einfach kann das Leben sein.
    Er streckte sich im Bett und entspannte sich wieder. Das unbeschreibbare Glück dieses einen Augenblicks, den einer noch im Bett liegen bleiben kann!
    Und was weiter? Gestern Abend war er mit dem Alten Mann im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen, die Alte Frau hatte ihm eine Flasche Bier und Erdnüsse hingestellt, und gemeinsam hatten sie in der ARD eine Unterhaltungsshow angeguckt. Wenn der Alte Mann lachen musste, hatte er mitgelacht, um zu zeigen, dass auch er alles lustig finden kann, was lustig ist. Die Alte Frau war nicht dabei gewesen, sie wolle das Bett frisch beziehen und Wäsche heraussuchen, hatte sie ihrem Mann gesagt.
    Als die Flasche Bier ausgetrunken war, war er aufgestanden und hatte einen Diener gemacht und war in das Zimmer gegangen, das eigentlich ein Kinderzimmer war und auf dessen Schlafcouch ein frischer, im Bund allerdings etwas zu breiter Pyjama für ihn bereitlag. Die ganze Zeit, auch während er die Zähne putzte, hatte sich die Alte Frau im Zimmer herumgetrieben und schließlich keinen anderen Vorwand gefunden als die Frage, ob sie die Jalousie herunterlassen solle, »so wie früher«, und er hatte den Pyjama in die Hand genommen und zu ihr hingesehen, damit sie begriff, und schließlich war sie gegangen, aber dieses »so wie früher« war ihm danach noch lange durch den Kopf gegeistert wie auf einer Schallplatte, die einen Sprung hat. Als Ausweg hatte er sich vorgestellt, irgendwann würden »sie« - also die Leute, die für seine jetzige Lage, seinen Aufenthalt und seinen allgemeinen Zustand verantwortlich waren - ihn auf einer fremden Zeitinsel aussetzen wie einen Robinson im Ozean der Parallelwelten, und als Nächstes war ihm die Frage eingefallen, ob das nicht vielleicht schon geschehen war, und so war er dann eingeschlafen, tief und fest...
    Noch immer gefiel ihm der Gedanke mit der Zeitinsel. Er stand leise auf, so dass man ihn im Haus nicht hörte, und ging an dem Flügel vorbei zu dem Bücherregal, das ihm schon gestern Abend aufgefallen war, weil er dort Comics gesehen hatte. Er glaubte sich an eine Geschichte von Micky und der Zeitmaschine zu erinnern, obwohl Donald sich auf einer Zeitinsel noch sehr viel komischer aufführen würde. Aber er musste vorsichtig sein. Wenn er zeigen würde, dass er lesen konnte, kämen sie ganz schnell darauf, ihm Zettel mit Fragen und Anweisungen zu schreiben. Der Artikel aus dem »Express« fiel ihm ein, als er sich in seiner Wut und Beschämung fast verraten hatte. Ein solcher Fehler durfte sich nicht wiederholen.
    Er horchte, aber es war noch still im Haus. Im Regal standen Schul- und Kinderbücher, er erkannte das Biologiebuch, das auch er mit zwölf oder dreizehn Jahren gehabt hatte, und verzog das Gesicht, weil es ihn an die gar nicht so lustige Frage erinnerte, wie zum Teufel die weiblichen Fortpflanzungsorgane

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