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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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ohne groß nachzuhaken das Zimmer zum Marktplatz hin gegeben hatte. Selbstverständlich habe der Seehof einen Internet-Anschluss, sagte Julia, und wenn Frau Wegenast eine sehr vertrauliche Mitteilung erwarte, könne sie gerne auch das Büro der Rezeption benutzen.
    Das Büro war klein und fensterlos. Auf der einzigen freien Fläche, der über dem Schreibtisch, hingen Urlaubsgrüße, überwiegend Postkarten mit den Motiven von Seehotels an karibischen oder sonst wie exotischen Stränden. Tamar rief den Mail-Server auf, meldete sich an und gab ihr Passwort ein.
    Jachimczaks E-Mail war eingegangen, sie musste aber etwas warten, bis sich die beigefügten Bilder aufgebaut hatten. Sie lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und betrachtete die Urlaubsfotos.
    Wenn jetzt, in wenigen Augenblicken, dachte sie, aus dem Drucker hier in diesem Hotelbüro die Auflösung des Falles rattert oder wenn wenigstens der Schlüssel dazu geliefert wird - was würde sie dann tun, in vierzehn Tagen oder drei Wochen, wenn sie den Abschlussbericht geschrieben haben würde? Weiter Dienst wie bisher, weiter Überstunden vor sich her schieben, weiter warten auf das, was morgens im eigenen Fach liegt, weiter hastige Freizeit und hastige Freizeit-Lieben? Vielleicht doch erst einmal einen großen Urlaub nehmen. Ein Sabbatjahr. Wo? In der Ägäis? Sie warf noch einmal einen Blick auf die Urlaubsgrüße: Nein, nicht in der Ägäis.
    Aber irgendwo, wo du allein bist unter einem weiten Himmel... Das erste von Jachimczaks Bildern war das Portrait eines jüngeren Mannes mit langem Haar und merkwürdig tief liegenden Augen, ein kleines Bärtchen am Kinn, war das nun der Mann, den die Jehles als ihren Sohn erkannt hatten? Möglich, aber gewiss nicht sicher, ohnehin gibt es keine Sicherheit bei Phantombildern.
    Draußen, im Hotelfoyer, ertönten Schritte. »Guten Abend«, sagte eine Männerstimme, »haben Sie noch zwei Zimmer frei? Oder ein Appartement?«
    Die Stimme war nicht besonders laut, aber tragend und artikulierte sorgfältig. Wer redet so?, überlegte Tamar.
    Zimmer seien noch frei, erklärte Julia, ob es für Raucher sein solle und ob Seesicht gewünscht sei?
    »Nichtraucher, und für mich gern ein Zimmer mit Seesicht und mit Bad«, kam die Antwort, wieder mit dieser klingenden Stimme. »Für meinen Begleiter sollte es ein Zimmer zum Marktplatz sein, wäre das möglich?«
    Sicher sei das möglich, antwortete Julia und bat, sich in den Meldezettel einzutragen.
    Der Drucker begann, das zweite Phantombild aus sich herauszuschieben. Ich habe diese Stimme schon einmal gehört, dachte Tamar, ganz bestimmt habe ich das. Sie warf einen Blick zur Rezeption, aber durch die Tür sah sie nur Julias Rücken mit dem blonden Pferdeschwanz. Dann wandte sich Julia zur Seite und gab die Sicht frei auf einen älteren Mann, der das Meldeformular ausfüllte, er trug einen grauen Anzug und hatte einen Hut neben sich auf den Tresen gelegt, das braune, kurz geschnittene Haar war straff gescheitelt.
    Irgendetwas erschien ihr an der Haltung des späten Gastes merkwürdig, nein: nicht merkwürdig, einfach besonders, als stünde er falsch am Tresen, aber dann hörte das leise Rauschen auf, das die Arbeit des Druckers begleitet hatte, sie zog das zweite Phantombild vollends aus dem Ausgabeschacht, ein runder Kopf, das Haar kurz geschnitten, kein Bart, ein kleines schutzloses Kinn, die Augen wieder zu tief liegend, an der Stirn keine Schramme, die ist sowieso später gekommen, aber sonst?
    Sonst hatte sie ein Portrait des Heimkehrers Bastian Jehle vor sich. Sie zuckte mit den Achseln. Wen sonst sollte sie da vor sich sehen?
    Draußen fragte Julia, ob die Gäste wüssten, wie lange sie bleiben wollten.
    »Zwei oder drei Nächte«, antwortete die Stimme.
    Tamar blickte noch einmal zur Rezeption hinüber. Der Fremde setzte sich den Hut auf, er tat das mit der linken Hand, natürlich, dachte Tamar, er war ein Linkshänder. Das war es, was ihr aufgefallen war, als er den Meldezettel ausgefüllt hatte, und auch das sollte ihr etwas sagen, aber wieder wusste sie es nicht.
    Sie stand auf und trat einen Schritt zurück, so dass sie außerhalb des Lichtkegels der Schreibtischlampe stand. Draußen gingen die beiden neuen Gäste zum Fahrstuhl, der Begleiter war ein knapp mittelgroßer Mann mit kurzem blondem Haar. Er trug zwei Lederkoffer, in seiner Drillichhose und der schwarzen Lederjacke sah er aus, als sei er der Chauffeur des Älteren, der

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