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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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wenig umsehen. Und das konnte sie hier so gut oder so schlecht tun wie anderswo.
    Das Foyer war nur matt beleuchtet und die Garderobe nicht besetzt. An den Kleiderhaken hingen noch einige Anoraks und Mäntel, eine der Türen zum Großen Saal war geöffnet, Klavierakkorde waren zu hören, ein kindlicher Sopran hob an zu singen und wurde fast sofort wieder von einer Männerstimme unterbrochen.
    Tamar betrat den Großen Saal. Er war fensterlos, die Decke und die Seitenwände waren getäfelt, das Parkett führte zur hell erleuchteten Spielfläche hinab. Eine kleine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen hockte verloren in den vorderen Rängen, einige Erwachsene warteten im Hintergrund, während unten auf der Bühne an einem Flügel ein weißhaariger Mann saß, in einen Disput oder einen Machtkampf mit einem schwarzhaarigen Mädchen verstrickt. Das Mädchen mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein, aber das Top und die Jeans saßen schon jetzt zu eng.
    »Ich hab’s doch gesungen, wie es da steht«, wandte das Mädchen ein.
    »Das genügt nicht«, sagte der Mann am Flügel und verfiel in eine Art Singsang. » Weine, weine, weine nur nicht...« Der Singsang brach wieder ab. »So steht es zwar da, als ob du den anderen trösten wolltest. Aber wenn du ehrlich bist - du willst ihn gar nicht trösten, du willst nur deinen Spaß, so seid ihr Mädchen doch, das weißt du in deiner schwarzen Seele ganz genau... Versuchen wir es noch einmal.« Offenbar war er erkältet, und das ließ seine Worte noch anzüglicher klingen, als sie es ohnehin waren. Er wandte sich wieder dem Flügel zu, das Mädchen warf einen Blick zu den anderen Jugendlichen und verdrehte dabei die Augen.
    Der Mann schlug einen Akkord an und brach ab, denn Tamar war aus dem Dunkel neben ihn getreten und hielt ihm ihre Hand mit der Armbanduhr vor die Augen.
    »Bitte?«, sagte er. »Wer sind Sie, was unterstehen...«
    Er hörte auf zu sprechen, denn statt der Armbanduhr zeigte ihm Tamar jetzt ihren Polizeiausweis. Das Gesicht des Mannes zuckte. Er war blass, aber die Haut um die großen, anklagend hochgestreckten Nasenlöcher war gerötet. Das schwarzhaarige Mädchen brachte sich mit zwei oder drei raschen Schritten aus seinem Blickfeld.
    »Welchen Anlass...«
    »Sie schicken die Kinder jetzt nach Hause«, sagte Tamar. »Dann unterhalten wir uns.« Sie ging zur Seite und blieb außerhalb der beleuchteten Spielfläche mit verschränkten Armen stehen.
    »Bitte«, sagte der Mann, »ich wollte nur noch...«
    »Sie schicken die Kinder sofort nach Hause.« Wer, zum Teufel, redete jetzt kursiv?
    Das Mädchen, das sich unmerklich wieder genähert hatte, zuckte zurück. Der Mann stand auf, er war groß, hager und trug einen nachtblauen Samtanzug. Das weiße Haar fiel ihm bis auf die Schultern.
    »Ich werde gerade darauf aufmerksam gemacht«, sagte er, zu den anderen Kindern gewandt, »dass es bereits zweiundzwanzig Uhr ist oder sogar noch später. Ich bitte die anwesenden Eltern, unseren übergroßen Eifer zu entschuldigen…« Er hob beide Hände, in einer Geste, deren Sinn nicht ganz verständlich war. »Ich darf aber noch darauf aufmerksam machen, dass die Generalprobe morgen pünktlich um fünfzehn Uhr beginnt, und alle Solisten und Choristen wollen dann bitte auch bereits in ihrer festlichen Kleidung angetreten sein.« Er wollte sich zum Flügel wenden, dann fiel ihm noch rechtzeitig ein, allen eine gute Nacht zu wünschen.
    Das Parkett leerte sich, und der Mann packte seine Notenblätter ein. Tamar sah ihm zu. Ein alter, eitler, rotzender Narr, dachte sie, warum musste sie ihn vor seinen Schülern so vorführen? Er griff nach dem Deckel, um den Flügel zu schließen, und sie sah, dass seine Hände dabei zitterten, als müssten sie sich am Deckel festhalten. Im selben Augenblick war der Anflug von Mitleid, der sie gestreift hatte, wie weggeblasen. Langsam ging sie auf ihn zu.
    »Sie sind Herr Windisch«, fragte sie, als sie neben ihm stehen blieb, »Carl-Maria Windisch?«
    »Ja, das bin ich.«
    Er sah nicht zu ihr herüber, sondern starrte geradeaus. Kein protestierender Hinweis darauf, dass er Professor sei. War es das?
    »Sie tragen einen Professorentitel?«
    Ein Blick zur Seite, jetzt zu ihr her. »Ich bin Honorarprofessor der Universität von Asunçion, das ist in Paraguay, das Kultusministerium hat...«
    »Ich habe nur wissen wollen«, unterbrach ihn Tamar, »wie Sie korrekt anzureden sind.«
    »Aber weshalb...?« Er schüttelte unwillig den Kopf, griff nach

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