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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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einem Taschentuch, schnäuzte sich trompetend und betrachtete danach, was aus seiner Nase herausgekommen war. Schließlich wandte er sich wieder der Besucherin zu. »Würden Sie mir nun bitte freundlicherweise sagen, weshalb Sie hierhergekommen sind und aus welchem Grund Sie mir gegenüber in dieser Weise auftreten?«
    Pfeifen im Wald?, überlegte Tamar. Wovor hat dieser Mensch Angst? »Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie verletzt haben sollte. Aber ich muss mit Ihnen über Bastian Jehle sprechen. Er war Ihr Schüler?«
    Windischs buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. Zu anderen Zeiten und für andere Leute mochte er beeindruckend gewesen sein. Tamar registrierte nur, dass seine grünen Augen wässrig waren wie bei einem Greis.
    »Ich verstehe Sie immer weniger. Sie dringen hier ein und treten auf, als wären Sie von der Stasi, und nun fragen Sie nach Bastian Jehle, der geht doch die Polizei gar nichts an, der ist wieder bei seinen Eltern, ich selbst habe ihn heute Morgen dort gesehen, und es war... ach! Das geht Sie doch auch nichts an, was ich dabei empfunden habe...«
    »Haben Sie ihn denn wiedererkannt?«
    »Wieso soll ich ihn nicht wiedererkannt haben? Er war mein Schüler, das wissen Sie doch, er war lange weg, viele Jahre sogar, aber die Eltern haben ihn gefunden und jetzt zurückgeholt, was gibt es da zu fragen und um diese Zeit?« Er holte eine goldene Taschenuhr aus der Tasche seines Samtjacketts, klappte sie auf und hielt sie nun seinerseits Tamar vors Gesicht.
    »Bastian war ein begabter Schüler?«
    »Wieder so eine Frage, die ich nicht verstehe«, antwortete Windisch, klappte die Taschenuhr wieder zu und steckte sie ein. Seine Gestalt straffte sich. »Seit jeher achte ich darauf, dass bei meinen Schülern ein zumindest überdurchschnittliches Talent vorhanden ist, also verstehen Sie recht: nicht nur Talent, sondern ein Talent, das in die Augen springt, und nicht nur Talent, sondern auch Fleiß, überdurchschnittlicher Fleiß.« Er hob die Hand, den Zeigefinger mahnend ausgestreckt, die Hand war knochig, langfingrig, altersfleckig. »Sie glauben ja nicht, welche Legionen von Klavierspielern aus China in unsere Konzertsäle drängen, Legionen und Aberlegionen, die russischen Pianisten sind von ihnen weggefegt worden, die polnischen desgleichen, damit die ganze europäische Spitze! Ich sage nur China und noch einmal: China, denken Sie nur daran, wer alles beim letzten Chopin-Wettbewerb angetreten ist, von den Koreanern will ich gar nicht reden...«
    »Und Bastian hatte dieses überdurchschnittliche Talent?«
    Carl-Maria Windisch ließ seine Hand wieder sinken. »Wie meinen? Ach ja, Bastian Jehle. Talentiert, gewiss doch. Was aus ihm geworden wäre? Das ist nicht in die Hand des Lehrers gelegt. Das kommt vor allem auf den Willen an, auf die Persönlichkeit, aber was soll man tun, wenn die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist, wenn sie sozusagen erst eine werden will?«
    »Dass das mit Problemen verbunden ist, wissen wir ja alle«, sagte Tamar. »Waren die bei Bastian denn besonders ausgeprägt?«
    Windisch sah sie an, als hätte sie etwas Ungehöriges verlangt oder angedeutet. »Wie viele Jahre ist das her? Siebzehn, nicht wahr? Ich finde in mir wirklich nur die sehr schemenhafte Erinnerung an einen Schüler, der sich wohl sehr bemüht hat, gewiss doch, aber sonst? Auch wenn ich mich anstrenge, sehe ich trotzdem nur einen flachshaarigen Jungen vor mir, nein: eigentlich keinen Jungen, sondern ein Kind, mit Kugelschreiberflecken auf den Fingern, allenfalls zwölf Jahre alt und noch sehr weit entfernt von allen Anfechtungen, die später kommen...«
     
     
     
    D er Fahrstuhl öffnete sich, und sie traten auf einen dunklen Korridor hinaus. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich nach dem hellen Licht im Fahrstuhl an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Allmählich aber zeichneten sich die Umrisse schmaler hoher Fenster vor ihm ab, Stefanie berührte seinen Arm und dirigierte ihn nach rechts. Sie gingen langsam, er erkannte, dass sie an einer Tür vorbeikamen, dann an einer zweiten. Vor einer dritten blieb sie schließlich stehen und tastete mit der linken Hand nach dem Schlüsselloch.
    »Das hier hat einem Notar aus Ludwigsburg gehört«, flüsterte sie, »letzten Winter ist er gestorben, und die Erben können sich nicht einigen.« Sie steckte den Hauptschlüssel, den sie in einem Versteck im Heizungskeller gefunden hatte, hinein und schloss auf. Mit einer Selbstverständlichkeit, als sei sie hier

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