Forever in Berlin
sie genau in diesem Moment übersinnliche Fähigkeiten entwickeln und den ollen Zeiger schneller drehen. Denn heute war erst Donnerstag. Wollte heißen: Es dauerte noch eine kleine Ewigkeit bis morgen, Freitag, um 20 Uhr.
»Hey, wach auf, Süße!«, rief Nick und fuchtelte mit einem zweifelhaft riechenden Spüllappen vor ihrer Nase herum. »Hast du an die Geburtstagstorte gedacht?«
Der Gestank, eine Mischung aus nassem Hund und alter Milch, holte sie sofort wieder gedanklich in die Coffee Bar zurück.
»Schmeiß das Ding da endlich weg, Nick! Und hol einen neuen Lappen, sonst macht uns die Lebensmittelaufsicht noch den Laden dicht.«
Nick ließ sich nicht beirren. »Der Ge-burts-tags-ku-chen?«
»Hab ich nicht vergessen. Steht im Kühlschrank hinter der Milchlieferung versteckt.«
Lilly hatte ihre beste Freundin Emily wirklich gerne, aber dass Em ausgerechnet heute 28 werden musste, wo Lillys Gedanken SO GANZ WOANDERS waren, kam ihr wirklich ungelegen.
»Und die Kerzen? Diese Scherzdinger, die sich nicht ausblasen lassen? Hast Du die auch besorgt?«
»Shit!« Lilly lief schuldbewusst rot an. »Habe ich total vergessen.«
Sie erwartete, dass Nick sie jetzt mitleidig anschaute, wie Tim es in den letzten Tagen immer getan hatte. Als wäre Verliebtsein eine Diagnose, die die baldige Einlieferung in eine geschlossene Anstalt mit sich brachte.
Stattdessen legte Nick den Arm um ihre Schultern. »Ach, Lillylein«, lachte er. »Wusste ich doch. Ich habe eben noch welche besorgt.«
Als gegen 19 Uhr der letzte Gast gegangen war, dimmten Lilly, Nick und Tim das Licht im Solo und riefen Emily, die in der Küche am Mittagsmenü für die kommende Woche gearbeitet hatte, nach vorne in den Gastraum. Emily trat ein, und es flackerten nur die 28 Kerzen auf der Torte im warmem, goldenem Licht. Nick spielte eine Reggaeversion von Happy Birthday auf der Gitarre.
»Happy Birthday, Em!«, rief Lilly.
»Ausblasen und etwas wünschen!«, kommandierte Nick mit einem leicht diabolischen Grinsen im Gesicht.
»Ach, ihr seid so süß«, freute sich Emily, nahm einen tiefen Atemzug und fing an zu pusten. Aber jede Kerze, die sie schon scheinbar ausgeblasen hatte, fing sich irgendwie wieder und brannte erneut. Emily versuchte es noch einmal und noch einmal, bis Lilly anfing zu glucksen. Nick platzte fast vor Lachen.
Jetzt kapierte es auch Emily. »Ihr seid so gemein, Ihr drei«, schimpfte sie gespielt ernst. »Und was ist jetzt mit meinem Wunsch?«
»Der gilt trotzdem«, versicherte Tim und gab ihr den mindestens zehnten »Geburtstagskuss« des heutigen Tages auf die Wange. Lilly fiel auf, dass diese Küsse sich aber stetig näher zu Emilys Mund bewegten. Er kann es einfach nicht lassen, der Schwerenöter, dachte sie missbilligend.
»Und was hast du Dir gewünscht?«, wollte Nick dann wissen.
»Das darf man nicht verraten«, rief Lilly dazwischen. »Sonst geht es nicht in Erfüllung.«
»Ich wette, einen Mann«, neckte Tim.
Emily schoss Tim einen strengen Blick zu. »Mach Dir mal keine Hoffnungen, mein Lieber.«
Die vier Freunde köpften eine Flasche Prosecco und begannen, die Schokoladentorte zu vernichten. Emily hatte von jedem ein kleines Geschenk bekommen. Nick hatte ihr heimlich auf ihrem iPhone drei Playlisten » Café Solo in the morning«, » Café Solo in the evening« und » Café Solo on a lazy weekend« eingerichtet. Tim hatte der leidenschaftlichen Köchin ein Rezeptbuch mit dem für Tims Verhältnisse nicht wirklich überraschenden Titel Liebesmenüs für Zwei augenzwinkernd überreicht. Und Lilly hatte ihrer besten Freundin ein Moleskin-Notizbuch geschenkt, in dem sie ihre berühmten Listen führen konnte: Die tägliche To-Do-Liste, die Wochenliste und die Liste der Vorsätze, die Emily gewissenhaft an jedem 31. Dezember für das kommende Jahr erstellte.
Zum wiederholten Male stießen sie auf das Geburtstagsgirl an.
»Wie fühlt man sich so mit 28?«, fragte Nick, nachdem er sein Glas ausgetrunken hatte. Mit seinen noch 27 Jahren war er jetzt der Jüngste in der Runde.
»Auch nicht anders als mit 27«, lachte Emily.
Doch Lilly fand, dass man mit 28 schon so gut wie 30 war. Und mit 30 war das Leben irgendwie zu Ende. 30 war so eine magische Grenze in ihrem Kopf, bis zu der man als Mensch und vor allem als Frau gefälligst bestimmte Dinge erreicht haben musste. Einen festen Job mit Karriereperspektive ergattern, zum Beispiel. Einen Mann. Vielleicht sogar eine Eigentumswohnung? Mit 30 schien es nur noch ein
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