Forgotten
Bibliothek führt, und mache mir im Geiste eine Notiz, das Versprechen heute Abend unbedingt mit in meinen Aufzeichnungen zu vermerken. Zudem nehme ich mir vor, nicht weiter darüber nachzudenken, dass ich auf diese Weise aktiv Pages Untergang begünstige. Vielleicht weiß Page nicht mit derselben Gewissheit wie ich, was passieren wird, aber schließlich besteht bei jeder Beziehung die Möglichkeit, dass sie scheitert, und dessen wird sie sich irgendwo ganz tief in ihrem Innern auch bewusst sein. Trotzdem lässt sie es drauf ankommen. Das reicht mir.
Ich denke an Luke und daran, wie eisern ich das große blinkende Warnschild in meinem Kopf ignoriere, auf dem steht: DU KANNST DICH NICHT AN IHN ERINNERN! In gewisser Weise bin ich gar nicht viel besser als Page.
Ein mir unbekannter Junge rempelt mich im Vorbeigehen versehentlich an. Er sieht ziemlich gut aus, und ich frage mich automatisch: War das Luke? Ich sehe einige andere Gesichter an mir vorbeiwischen, und auf einmal wird mir klar, dass ich nicht den Schimmer einer Ahnung habe, wie er überhaupt aussieht. Er könnte direkt neben mir hergehen, und ich würde ihn nicht erkennen. Was, wenn er mich für komplett bescheuert hält, weil ich ihn nicht anspreche? Was, wenn er mich nicht hübsch findet?
Ich mache einen kurzen Abstecher aufs Mädchenklo, um meine Nervosität in den Griff zu bekommen. Bei der Gelegenheit untersuche ich auch gleich noch mal mein Spiegelbild nach Dingen, die Luke missfallen könnten. Gott sei Dank bin ich ganz allein, als ich ein komisch abstehendes Haar glattstreiche und dann meine Zähne, Nase und meinen Hintern im Spiegel checke.
Es klingelt, gerade als ich aus dem Klo komme. Ich renne die letzten paar Meter zur Bibliothek.
*
»Unpünktlichkeit wird in meinem Unterricht nicht geduldet«, verkündet die Mason, ohne von ihrer Illustrierten aufzublicken. Ich schleiche mich zum einzigen noch freien Platz gegenüber von einem Jungen, der sich sehr zu freuen scheint, mich zu sehen.
Und da weiß ich es: Das ist Luke.
Als ich mich hinsetze, schiebt er unauffällig ein Blatt über den Tisch, das er aus seinem Schreibblock gerissen hat, dann kehrt er zu seiner Arbeit zurück. Ich packe erst meine Schulsachen aus, bevor ich den Zettel lese; das Warten bringt mich fast um, aber ich will auf keinen Fall so rüberkommen, als ob ich es nötig hätte. Als ich dann endlich lese, was er mir geschrieben hat, habe ich allergrößte Mühe, nicht an Ort und Stelle zu zerfließen.
London,
wie es aussieht, kommen wir im Unterricht nicht zum Reden. Warum gibst du mir nicht deine Nummer, und ich ruf dich später an?
Luke
PS: Du siehst hübsch aus heute.
Als ich den Zettel zum zweiten Mal lese, muss ich mein Gesicht in die Armbeuge pressen, um ein Lachen zu unterdrücken: Luke hat die Nachricht geschrieben, bevor ich aufgetaucht bin. Da hatte er noch gar keine Ahnung, wie ich aussehen würde.
Den Rest der Stunde träume ich mir eine Zukunft mit Luke zusammen, als wäre ich ein ganz normales Mädchen, das sich nicht an die Zukunft erinnern kann. Das ist wenigstens der Vorteil daran, dass ich ihn Nacht für Nacht vergesse: Ich kann mir alles Mögliche ausmalen.
Zwei Minuten vor dem Klingeln kritzle ich meine Nummer ganz unten auf Lukes Nachricht und schiebe sie wieder zu ihm rüber. Ich bin zugegeben ein bisschen beeindruckt, als er todesmutig sein Handy rausholt, obwohl darauf Nachsitzen steht, und meine Nummer sofort einprogrammiert. Gott sei Dank bekommt Ms Mason nichts mit.
Als es klingelt, stehen Luke und ich zur selben Zeit auf und gehen nebeneinander her zur Tür. Nah, aber nicht so nah, dass wir uns berühren. Hannah Wright, die vor uns geht, hält uns die Tür auf. Sie sieht von mir zu Luke und wieder zu mir, dann lächelt sie uns vielsagend zu, bevor sie sich wieder umdreht.
Auf dem Gang verabschieden Luke und ich uns voneinander.
»Also dann, bis später«, sagt Luke.
»Alles klar«, antworte ich. Ich will noch mehr sagen, aber wir verursachen einen Stau im Gang, außerdem ist die Pause bis zur nächsten Stunde nur kurz. Also winke ich bloß zum Abschied und drehe mich um. Ich muss mich zwingen, zu meinem Schließfach zu gehen, statt zu hüpfen.
*
Später, in Geschichte, verkündet Mr Ellis, dass er einen Film über den Nationalsozialismus zeigen will.
»Das Material ist ziemlich erschütternd, aber ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich wie vernünftige Erwachsene benehmen. Jeder, der dazu nicht in der Lage ist, kann den Rest der
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