Forgotten
nicht?«
Sie lacht, als wäre es ein Spiel. Sie sieht nicht, welche Folgen diese Affäre für sie haben wird, aber ich schon.
»Wieso nicht? Ich kann dir sagen, wieso nicht.«
»Nur zu, ich bin ganz Ohr«, sagt sie gelangweilt, kramt eine Flasche mit neonpinkem Nagellack aus ihrem Körbchen und macht sich daran, ihre Zehen zu verschönern.
»Er ist ein Lehrer, du bist eine Schülerin. Er ist erwachsen, du bist minderjährig. Das ist illegal, Jamie. Er kann deswegen gefeuert werden oder sogar in den Knast gehen!«
»Ach, Quatsch. So was passiert in Wirklichkeit doch nie.«
So was passiert in Wirklichkeit doch nie? Leben wir etwa in einer Welt, in der solche Affären so oft vorkommen, dass Jamie sagen kann, »So was passiert in Wirklichkeit doch nie«?
Ich ignoriere den Kommentar und fahre fort. »Er ist viel zu alt für dich.«
»Er ist erst vierundzwanzig«, widerspricht Jamie. »Und hast du ihn dir schon mal richtig angesehen? Er ist heiß.«
Ich erinnere mich daran, wie ich Mr Rice nächste Woche auf dem Gang begegnen werde. Sie hat recht, er ist wirklich ziemlich heiß. Aber deswegen ist es noch lange nicht in Ordnung.
Vielleicht sollte ich ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Zielobjekt lenken. Im Geiste gehe ich meine Notizen durch und rufe mir die Namen der Jungs ins Gedächtnis, mit denen Jamie in der letzten Zeit zu tun hatte. »Was ist mit Jason, findest du den nicht gut? Oder Anthony?«
»Das sind doch Jungs . Gut als Zeitvertreib, aber mehr auch nicht. Ted ist ein richtiger Mann .«
»Einer, der ernsthafte Probleme hat, wenn er irgendwelche Schülerinnen anbaggert.«
»Ich bin nicht irgendeine Schülerin! Außerdem hast du sowieso keine Ahnung. Er ist total nett! Warum freust du dich nicht einfach für mich?«
Es hat keinen Sinn. Meine Argumente führen zu nichts. Ich muss die schweren Geschütze auffahren.
»Muss ich dir erst sagen, wie das alles enden wird?«, frage ich leise und mit todernster Stimme.
Jamies Kopf schnellt herum. Sie sieht mir genau in die Augen. In ihren lodert ein gefährliches Feuer.
»Du willst mir nicht sagen, dass ich beim Schummeln erwischt werde, aber meine Beziehung mit Ted, die versaust du mir gern, was?«
Beziehung? So weit sind wir auf einmal schon?
»Von ›gern‹ kann überhaupt keine Rede sein, aber –«
»Stopp!«, sagt sie scharf und hält mir die ausgestreckte Hand vors Gesicht. »Ich will’s gar nicht hören. Wir werden ja sehen, was passiert. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Vielleicht irrst du dich ja, schon mal drüber nachgedacht?«
»Ich irre mich nicht «, sage ich mit Entschiedenheit.
»Ist mir doch egal«, schnauzt Jamie.
Ein paar Minuten lang schweigen wir beide bockig vor uns hin. Ich denke an den langen Fußweg durch den Schnee nach Hause, und schließlich beiße ich in den sauren Apfel.
»Tut mir leid, Jamie. Ich mach mir bloß Sorgen um dich.«
»Das weiß ich ja. Aber das musst du nicht. Es ist alles in Ordnung.«
»Okay«, sage ich, nicht sehr überzeugend.
»Im Ernst, London.« Jamie setzt sich kerzengerade auf dem Bett auf. »In deiner eigenen Zukunft kannst du rumwurschteln, wie du lustig bist, aber von deinen Erinnerungen über mich will ich absolut nichts hören. Es ist schon komisch genug, dass ich weiß, dass du weißt, was mir mal passieren wird. Ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die sich aus der Hand lesen lassen oder was auch immer. Ich mag Überraschungen. Außerdem ist es mein Leben, und ich hab das Recht, es so zu leben, wie ich will.« Bevor ich den Mund aufmachen kann, sagt sie noch: »Okay?«
»Okay«, verspreche ich schweren Herzens.
»Danke«, sagt Jamie und lächelt.
Damit scheint der Friede zwischen uns wiederhergestellt, aber als wir kurz darauf zum Abendessen nach oben gehen, brummt Jamie noch: »Schreib dir das auf einen deiner Zettel, damit du es ja nicht vergisst.«
»Schon gut«, sage ich geknickt. »Ich hab’s verstanden.«
10
Ich bin auf dem Friedhof.
Rechts neben mir steht meine Mutter und weint. Links der steinerne Engel. Aus dem Halbkreis der schwarz gekleideten Trauergäste stechen ein paar Gestalten hervor: eine ältere Frau mit einem Spitzentaschentuch, eine junge Frau mit tief ausgeschnittenem Kleid, ein kahlköpfiger Mann, der ziemlich finster aussieht und gebaut ist wie ein Kleiderschrank.
Meine Augen bleiben kurz an einer kleinen schwarzen Brosche hängen, die an der Bluse der älteren Frau steckt und die aussieht wie ein mit Edelsteinen besetzter Käfer.
Weitere Kostenlose Bücher