Forgotten
seltsame Beerdigungs-Erinnerung in den Kopf gekommen. Total unheimlich. Ich weiß nicht viel, nur, dass ich in einer Menge von Leuten stehe, die alle schwarz tragen. Die Gesichter sagen mir nichts. Wir sind auf einem Friedhof, irgendjemand ist gestorben. Zuerst habe ich gedacht, es ist Mom, doch dann habe ich mich daran erinnert, dass sie neben mir steht. Ich glaube, es ist Vormittag, aber der Himmel ist so grau, dass man es unmöglich sagen kann.
Ich erinnere mich noch an die Statue einer Heiligen (vielleicht auch ein Engel?) auf der Grabstelle links neben uns … aus grünem Stein; sie sieht aus, als würde sie uns beobachten.
Ich höre auf zu tippen und speichere die Datei auf meinem Desktop unter dem Namen »Düstere Erinnerung«. Dann drucke ich die Seite aus und lege den Ausdruck unter meine handgeschriebenen Notizen für morgen. Herzen und Blümchen einerseits, ein trauriger Tag in der Zukunft andererseits.
Danach verkrieche ich mich wieder ins Bett, knipse zum zweiten Mal an diesem Abend das Licht aus und erlaube meinen Gedanken, zu meinem sexy Freak zu schweifen, dessen Vornamen ich noch nicht kenne. Nur um gleich darauf ein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil ich an ihn denke, obwohl in der Zukunft – wann? – viel schwerwiegendere Dinge auf mich warten.
Irgendwie, zwischen all diesen wirren Gefühlen, fasst der Schlaf meine Hand und zieht mich zu sich hinab.
Und alles Ungeschriebene ist weg.
7
Auf dem Weg zur Schule überlege ich, ob ich Mom von der Beerdigungs-Erinnerung erzählen soll – bis mir klarwird, dass ich ihr damit vielleicht Angst mache. Es muss ja nicht jeder wissen, was kommt.
Nachdem sie mich vor der Schule abgesetzt hat, gehe ich schnurstracks in die Bibliothek. Heute ist ein gerader Blocktag, das heißt, ich habe vier Doppelstunden. Ein Tag ohne Sport ist immer ein Anlass zur Freude.
Es hat noch nicht zum ersten Mal geläutet, aber ich will rechtzeitig da sein, um mich mental auf den Jungen aus meinen Notizen vorzubereiten.
Meinen sexy Freak. Den geheimnisvollen Mr Henry.
Ich gehe quer durch die Bibliothek bis ganz nach hinten, setze mich an einen freien Platz und fische einen kleinen Spiegel aus meiner Tasche. Vorsichtig korrigiere ich meinen Lidschatten mit dem Ärmel, dann stecke ich den Spiegel weg und hole mein Spanischbuch heraus.
Ganz plötzlich steht er vor mir, beugt sich über den Tisch und schaut mich forschend an. Ich habe ihn nicht kommen hören.
»Na?«
Ich lasse das Buch sinken, und mir fällt fast die Kinnlade runter. Ich habe gedacht, ich wäre einigermaßen vorbereitet, aber das war wohl ein Irrtum. Ich bin es nicht ansatzweise. Nicht auf diesen Anblick.
»Hi«, gelingt es mir wie durch ein Wunder zu antworten.
»Wie war dein Tag bis jetzt?«, erkundigt er sich.
»Nicht so berauschend«, antworte ich wahrheitsgemäß.
Ein besorgter Ausdruck tritt in sein Gesicht, und mir wird ganz warm dabei. »Was ist denn passiert?«
»Ach, nichts«, sage ich. »Ich hab bloß verschlafen, und meine Mom hat genervt und … das Übliche. Nicht der Rede wert.«
Es klingelt zum Stundenbeginn, aber er und ich kleben mit unseren Blicken aneinander fest. Als der schrille Gong verklungen ist, flüstert er: »Okay, aber falls du irgendwann später doch drüber reden möchtest, ich hör dir gerne zu.«
»Danke«, sage ich und meine es ernst.
»Gern geschehen«, antwortet er noch schnell, bevor Ms Mason ihn zur Ordnung ruft.
»Luke Henry und London Lane, das ist jetzt meine letzte Warnung! Es wird nicht gesprochen!«
Mich durchrieselt ein köstliches warmes Gefühl, als ich seinen Namen zusammen mit meinem höre, und während er in seiner Tasche nach Schulbüchern sucht, hauche ich seinen Namen so leise, dass ich es selbst kaum hören kann.
»Luke.«
Den Rest der Doppelstunde haben wir keine Gelegenheit mehr, uns zu unterhalten, aber seine bloße Anwesenheit hebt meine Stimmung enorm. Dank ihr gelingt es mir, den hektischen Morgen und – noch wichtiger – meine Aufzeichnungen von heute früh zu vergessen.
Die Stunde ist etwa zur Hälfte um, da berühren sich unsere Finger zufällig in der Mitte der Tischplatte, als ich mein Buch zurechtrücken und er einen weggerollten Bleistift einfangen will. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand eine Spritze mit Adrenalin mitten ins Herz gejagt. Ich schnappe nach Luft, ziehe schnell meine Hand zurück und lasse sie auf meinem Schoß verschwinden. Luke sieht kurz zu mir und lächelt, woraufhin ich rot werde und die
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