Forgotten
hochsteigt, wie wenn man etwas verloren hat, was man wirklich gerne mochte, die Lieblingsarmbanduhr oder den Lieblingskugelschreiber oder die Lieblingsjeans.
Jamie hat sich wieder bei mir eingehakt, und wie alle anderen gehen wir auf den Eingang zu. Oder vielmehr: Jamie zieht mich, denn ohne sie stünde ich sicher immer noch wie angewurzelt auf dem Parkplatz.
Endlich, endlich sehe ich ihn.
Ein starkes Ziehen und Kribbeln durchfährt meinen Bauch, als ich Lukes T-Shirt im Strom der Schüler erspähe. Er hält den Kopf gesenkt und geht langsam, aber zielstrebig. Unberührbare Coolness. Erst freue ich mich, ihn entdeckt zu haben, aber dann macht sich Enttäuschung breit.
Wieso ist er einfach abgehauen?
Da war doch was zwischen uns, oder?
Er hat mir seinen Pullover geliehen, und jetzt geht er zurück in seine Klasse, als wäre nichts gewesen. Als hätte er nie diesen faszinierenden, wenngleich etwas verfrorenen und zerzausten Rotschopf getroffen.
Ja, da war was zwischen uns, und jetzt hat Luke Henry aus Boston es schon wieder vergessen, und ich verkralle mich beim Anblick seiner Kehrseite so fest in den Arm meiner besten Freundin, dass diese mich irritiert ansieht und sich von mir losmacht.
Mit einem Mal macht mein Morgen wieder einen Kopfsprung Richtung Abgrund, und ich fühle mich noch mieser als vorhin, nachdem ich festgestellt hatte, dass mein Handy kaputt ist. Schon komisch, wie eine bloße Möglichkeit einem solchen Auftrieb geben kann. Noch komischer, wie schnell die Wirklichkeit dafür sorgt, dass man wieder auf dem Boden landet.
Aus zwanzig Schritt Entfernung sehe ich Lukes Rücken dabei zu, wie er den Gang zum Sporttrakt hinunter immer kleiner wird, an den Umkleiden vorbei, dann am Raum für den theoretischen Fahrunterricht, dann immer weiter in Richtung der großen Halle. Es ist, als wäre nichts zwischen uns passiert, rein gar nichts. Und wer weiß? Vielleicht ist ja auch gar nichts passiert.
Aber als Luke Henry schließlich um eine Ecke biegt und aus meinem Blickfeld verschwindet, weiß ich eins ganz sicher. Eine Sache, die mir einen Splitter eines Stäubchens einer Hoffnung gibt, dass wir uns wiedersehen werden.
Ich habe immer noch seinen Kapuzenpullover an.
*
»Und, wie war dein Tag heute?«, fragt Mom, als ich nach der Schule in den Prius steige.
»Ganz okay«, antworte ich bloß und drehe das Radio auf.
Mom lacht. »Wie ich sehe, hast du also auch ohne dein Handy überlebt. War sonst noch was?« Sie lenkt den Wagen vom Parkplatz und schlägt die Richtung nach Hause ein.
Achselzuckend sage ich: »Wir haben einen Neuen auf der Schule.«
Meine Mom wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu, dann schaut sie wieder auf die Straße. Ich sehe genau, dass sie sich bemüht, nicht zu grinsen, sie schafft es aber nicht.
»Und? Ist er süß?«, fragt sie.
Jetzt muss ich auch grinsen.
»M-hm.«
»Wie heißt er?«
»Luke.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Kurz. Es gab einen Feueralarm, und wir mussten alle nach draußen. Ich stand zufällig neben ihm auf dem Parkplatz. Er ist ganz okay.«
Meine Mom ist einen Moment lang still, vermutlich weil sie spürt, dass ich keine Lust habe, die Unterhaltung fortzuführen, aber dann kann sie sich, neugierig, wie sie ist und immer sein wird, eine weitere Frage nicht verkneifen.
»Stand heute Morgen in deinen Notizen etwas über ihn?«, erkundigt sie sich betont beiläufig. Ich überlege, ob ich das Thema wechseln oder das Radio noch ein bisschen lauter drehen soll, aber da sie einer von zwei Menschen auf der ganzen Welt ist, mit denen ich überhaupt über meinen Zustand sprechen kann, beschließe ich, ihr doch zu antworten.
»Das ist ja das Komische.«
»Was ist das Komische?«
»Dass er nicht in meinen Notizen stand, obwohl ich mich richtig mit ihm unterhalten hab«, erkläre ich. »Total merkwürdig.«
»Vielleicht hast du einfach nur vergessen, ihn zu erwähnen«, meint Mom. Wir biegen in unsere Straße ein.
Ich zucke die Achseln. »Ja, vielleicht.« Aber die Antwort dient nur dazu, meine Mutter abzuspeisen. Ich weiß nämlich ganz genau, dass ich jemanden wie Luke Henry nie, nie, niemals vergessen hätte.
Wir sind schon fast da, als Moms Handy klingelt.
»Entschuldige, Schatz, da muss ich rangehen.«
»Kein Problem«, sage ich, froh, dass ich mich ungestört meinen Tagträumen hingeben kann.
*
Mitten in der Nacht, ich sitze mit gezücktem Kugelschreiber im Bett, verlässt mich die Hoffnung. Lukes Kapuzenpullover liegt ganz oben in meinem
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