Forgotten
Wäschekorb, aber sein Gesicht wird schon bald aus meinem Kopf verschwunden sein. Die letzten drei Stunden über habe ich krampfhaft versucht, irgendeine Zukunftserinnerung über ihn heraufzubeschwören. Ich habe mir alle möglichen Fragen gestellt: Überschneiden sich unsere Stundenpläne? Haben wir irgendwann mal ein Date? Werde ich die nächsten Jahre über noch mit ihm zu tun haben? Aber je näher der Zeiger auf vier Uhr dreiunddreißig zutickt – das ist der Zeitpunkt, an dem jede Nacht meine innere Festplatte neu formatiert und meine Erinnerung an den vergangenen Tag gelöscht wird –, desto deutlicher wird die traurige Wahrheit: dass Luke nirgendwo zu finden ist.
Er ist nicht Teil meiner Erinnerung, und das heißt, er ist nicht Teil meiner Zukunft.
Es tut weh, das akzeptieren zu müssen. Aber ich habe keine Zeit, Trübsal zu blasen. Vielmehr gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder mache ich mir die Mühe, mich an jemanden zu erinnern, der in meinem weiteren Leben keine Rolle spielen wird, oder aber ich lasse ihn aus meinen Notizen weg und erspare mir auf diese Weise morgen ein ähnliches Gefühlschaos wie heute.
Es sind nur noch wenige Minuten bis zum Reset, daher fällt die Entscheidung nicht schwer. Ich beiße die Zähne zusammen, fasse den Kugelschreiber fester und tue, was ich tun muss.
Ich lüge mich an.
3
Im Haus ist es still; es ist noch früh.
Ich lasse den Blick durch mein Zimmer schweifen und versuche, Unterschiede zwischen zwei fast identischen Bildern zu finden: dem, an das ich mich von morgen erinnere, und dem, das ich jetzt gerade vor mir sehe.
Auf meinem Schreibtisch steht auf einem Untersetzer eine leere Tasse mit einem benutzten Teebeutel darin, dessen Faden mehrmals um den Henkel gewickelt ist. Ein Pullover hängt über den Rand des Wäschekorbs, als wollte er rausklettern und fliehen.
Morgen wird die Tasse nicht mehr dastehen. Auf dem Schreibtisch wird ein Stapel Schulbücher liegen. Der Wäschekorb wird leer sein.
Ich habe meine Aufzeichnungen von gestern in der Hand, in denen alles steht, was ich vergessen habe. Na ja, zumindest die Highlights.
17. 10. (So)
Klamotten:
– superweicher Kapuzenpullover (lt. Zettel vom Freitag aus der Fundkiste in der Schule)
– schwarze Leggings
– Sherpa-Boots
Schule:
– Pflaster für Blase einstecken (fast verheilt, Gott s. D.)
– Yogahose u. T-Shirt für Sport mitbringen (musste Freitag oberpeinliches Shirt von Page borgen)
– HANDY!! (liegt im Auto)
Sonstiges:
– J war übers Wochenende mit ihrem Dad in L. A.
– Page diese Woche aus dem Weg gehen!
– Arzttermin heute früh (Freitag in Sport umgeknickt)
Ich lege den Zettel beiseite und überfliege die Notizen der vergangenen Woche, wobei ich meinen Kommentaren vom Freitag über Sportkleidung und Schulsachen besondere Aufmerksamkeit widme. Dann, obwohl ich immer noch das Gefühl habe, als würde ich mich halbblind in die Welt hinauswagen, steige ich aus dem Bett und stelle mich dem Tag.
*
Auf dem Weg zum Arzt nimmt Mom die Hudson Avenue, die direkt durch den Friedhof führt. Die Ampel an der Kreuzung Hudson und Washington steht natürlich mal wieder auf Rot.
»Verflixt, wir kommen zu spät!«, knurrt Mom halblaut. Sie trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad ein, und ich frage mich, ob sie einen Besichtigungstermin verpasst, weil sie mich zum Arzt fährt.
Ich schaue nach rechts aus dem Fenster und sehe mir die Grabsteine an. Sie stehen in schnurgeraden Reihen, die genau im rechten Winkel von mir wegführen und sich in der Ferne ganz leicht nach links krümmen.
Es wird grün, und gerade als Mom aufs Gas tritt, nehme ich eine Bewegung zwischen den Gräbern wahr. Es sind zwei Leute, ein Mann und ein kleiner Junge, die vor einem der Grabsteine stehen bleiben. Natürlich weiß ich, dass sie einen Verstorbenen besuchen, und sie haben ganz und gar nichts Unheimliches an sich, aber trotzdem werde ich bei ihrem Anblick ganz steif, und ein Kribbeln wie Strom geht durch meinen Körper. Ich erschauere kurz.
Mom merkt nichts. »Weißt du noch, was du sagen musst, wenn der Arzt dich fragt, wie das passiert ist?«, reißt sie mich jäh aus meinen Gedanken. Wir sind soeben auf den Parkplatz vor der Praxis eingebogen.
»Ja«, sage ich, froh über die Ablenkung. »Dass ich in Sport über einen Ball gestolpert bin.«
»Gut«, sagt sie, bevor sie aussteigt. Ich folge ihr. Eilig überqueren wir den Parkplatz und betreten die Eingangshalle, dann fahren wir schweigend im Aufzug zwei
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