Forgotten
Stockwerke nach oben. Normalerweise wäre es mir peinlich, dass meine Mutter mich bis zur Anmeldung begleitet, aber diesmal vergesse ich zu protestieren. Ich bin die ganze Zeit über in Gedanken auf dem Friedhof.
4
»So, so. Ein Arzttermin?«
»Ja«, sage ich und schenke unserer Schulsekretärin Henne Fassbinder, ihres Zeichens fanatische Katzenliebhaberin, mein unschuldigstes Lächeln.
Sie zieht zur Antwort missbilligend die Brauen zusammen und tippt etwas in den Computer ein. Ihre Fingernägel sind so lang, dass sie eine Coladose wahrscheinlich mit der Seite des Daumens öffnen muss.
Ich trete ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht könnte sie sich ein bisschen beeilen? Ich muss unbedingt noch zu meinem Schließfach, bevor es zur nächsten Stunde läutet.
»In Eile?«, fragt die Fassbinder gedehnt.
»Nö«, sage ich und pappe mir erneut ein Lächeln aufs Gesicht. Wieder runzelt sie bloß die Stirn.
Endlich ist sie mit dem Tippen fertig und stößt sich samt Drehstuhl vom Schreibtisch ab. Sie langt hinter sich, öffnet einen Aktenschrank, fischt meine Akte heraus und steckt die Entschuldigung, die meine Mom wenige Minuten zuvor geschrieben hat, hinein.
Sobald ich weg bin, wird sie sie zweifellos wieder hervorholen, um die Handschrift mit der auf früheren Entschuldigungen zu vergleichen.
Ich drehe mich um und werfe einen Blick auf die riesige Normaluhr an der Wand. Neun Uhr zweiundfünfzig. In drei Minuten klingelt es, und aus irgendeinem Grund bin ich deswegen nervös. Ich habe Sport, Stillbeschäftigung und Analysis I verpasst. Eigentlich kein schlechter Schnitt.
Endlich hält mir die Fassbinder einen Passierschein hin. Als ich ihn entgegennehme, fallen mir die winzigen Katzenaufkleber auf, mit denen sie ihre Nägel dekoriert hat. Es sieht aus, als wären die Tiere mit den Pfötchen in knallrotem Zement stecken geblieben, der sie nun für immer gefangen hält.
Arme Miezen.
Ich schwinge mir die Schultasche über die rechte Schulter und sehe zu, dass ich aus dem Büro komme. Im Laufschritt durchquere ich die große Halle – den laut Attest »angestauchten« Knöchel heldenhaft ignorierend – und biege in den Hauptkorridor neben der Bibliothek ein. Auf halbem Weg schrillt die Glocke zum Ende der dritten Stunde, und auf einmal ist der Gang überschwemmt mit Schülern. Verträumte Neuntklässler, händchenhaltende Paare und Cliquen, deren Mitglieder sich benehmen, als trügen sie T-Shirts, auf denen steht »Versuch gar nicht erst, an uns vorbeizukommen«, versperren mir den Weg.
Ich gebe mir Mühe, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden, damit ich nicht aufgehalten werde, aber manchmal ist das unmöglich. Page Thomas, die wieder mal so zerrupft aussieht, als wäre sie eben erst aus dem Bett gefallen, hält direkt auf mich zu und winkt mir mit einem fast schon manisch wirkenden Lächeln im Gesicht. Den Bruchteil einer Sekunde lang frage ich mich, wieso sie sich so dermaßen freut, mich zu sehen. Ich klemme mir die Schultasche unter den linken Arm, damit ich ihren Gruß erwidern kann, als wir aneinander vorbeigehen.
Dann fällt es mir wieder ein.
Page will, dass ich sie mit Brad aus Mathe zusammenbringe. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Mut aufbringt und mich fragt. Urgs. Wer bin ich, Amor?
Am Eingang zum Matheflügel blockieren Carley Lynch und ihre Gazellenfraktion den Gang. Sie alle tragen ihre rotschwarzen Cheerleading-Uniformen, und einige der Teammitglieder machen sich allen Ernstes Notizen, während Carley, der Captain der Mannschaft, eine Ansprache hält.
Als ich mich an ihnen vorbeiquetsche, fällt mir ein kleines Abziehbild genau auf dem höchsten Punkt ihres exquisit geschwungenen Wangenknochens auf. Es ist ein Tiger, das Maskottchen unserer Schule. Ich stelle mir vor, wie sie heute Morgen vor dem Spiegel gestanden und versucht hat, es exakt an der richtigen Stelle zu platzieren, und muss unwillkürlich lachen.
Natürlich bleibt mein Heiterkeitsausbruch nicht unbemerkt. Carley dreht sich zu mir um und verengt die Augen zu Schlitzen. Sie lässt ihren Kobrablick einmal von oben nach unten über meinen Körper gleiten, bevor sie sagt: »Na, Loser? Wir schließen gerade Wetten darüber ab, wann du mal ein halbwegs anständiges Outfit anhast. Wo hast du das da gekauft? K-Mart?«
Ich habe keine Ahnung, wo meine Kleider her sind oder warum Carley mich so hasst, und ich merke, wie mir die Kehle eng wird. Obwohl ich den Vorteil habe zu wissen, dass ich mit jedem Tag
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